21.06.2025 Samstag
Die Drôme, überraschend und erfrischend, sie war so schön, nun liegt sie hinter uns. Aber die Erinnerung daran schafft sich schon jetzt Platz in uns. Viel Zeit, den Gedanken darüber nachzuhängen, haben wir nicht, denn bis zum heutigen Tagesziel sind es keine 100 km, die über natürlich mautfreie Route schnurgerade gen Norden abgerissen werden.
Gut 2 Stunden später laufen wir auch schon nach ständigem Auf und Ab und selbstverständlich vielen Kreiseln und Hubbeln ein in der kleinen Ortschaft Hauterives im Herzen der hügeligen Drôme. Ein ganz bestimmtes Monument, das mir bei Planung unserer Rückreise glücklicherweise wieder in die Augen fiel und an das ich mich trotz irrer Hitze erinnern konnte, liegt hier. All die, die den Film darüber gesehen haben, werden sich erinnern: Ferdinand Cheval, der Postbote, und sein „Palais Idéal“. Unser „Palais Idéal“ parken wir erstmal auf einer unpersönlichen riesigen schattenlosen Parkfläche nach Passieren einer Schranke, die sich nach unproblematischer Eingabe einiger Daten öffnet. In einer Ecke haben sich etliche Großraum-Mobilhomes zusammengefunden. Manchen dichtet man nicht mehr an, sie könnten sich fortbewegen, andere haben sogar doppelachsige Anhänger für PKW und Motorrad im Schlepptau. Leben in solch einem Ding? Unvorstellbar für uns, da die Freiheit angesichts der Masse, die bewegt werden will, auch nur beschränkt als „Freiheit“ verstanden werden kann. Flucht … beginnt auch mit „F“, eher fällt mir solches dazu ein. Jeder Jeck ist anders, auch der französische, wobei auch Spanier hier parken.
Dann schlage ich mal das Kapitel „41 Grad, Monsieur Cheval und ich“ auf. Meine Güte, man muss schon etwas wirklich sehr wollen, um sich bei dieser Hitze aus der minimalen Schattenlage einer Markise lösen zu können. Es muss Liebe sein, echte, heiße Liebe. Und die ist es. Voller Bewunderung für das Lebenswerk dieses schnauzbärtigen entschlossenen Briefträgers schnappe ich mir mein Rad und meine Kamera und schiebe ab. Chianga und Wim verzichten zu Gunsten anderer. Nur kurz über die Brücke eines steinigen Flusslaufs mit wenig Wasser, um eine Ecke nach rechts, und schon bin ich in der brütend heißen Gasse und am Eingang der Kultstätte, die jährlich 150.000 Besucher aufsuchen, löse meine Eintrittskarte, zahle 9 € und ziehe über „los“.
Da isset nun, das unter Denkmalschutz stehende Meisterwerk, ein „Historisches Monument“, ein Palast der ganz besonderen Art, einzigartig und herausragend und unglaublich, von Monsieur Cheval aus Steinen mit unfassbarer Phantasie und aus eigener Vorstellungskraft im Laufe von 33 Jahren völlig alleine errichtet und 1912 fertiggestellt.
Inspiration gaben ihm die Natur, aber auch Bücher, Postkarten und Zeitschriften, die er zur damaligen Zeit als Postbote zustellte. Um seinen Traumpalast zu realisieren, lief Monsieur Cheval, zu Beginn 43 Jahre alt, täglich um die 30 km zu Fuß, suchte sich beim Postaustragen Steine zusammen, die er mit seiner Schubkarre zur Baustelle brachte. Er selbst nannte seinen Palast „travail d’un seul homme“ - die Arbeit eines einzigen Mannes.
Sein herausragendes Werk, dessen Mauern er mit Zitaten und Gedichten verzierte, vereint Stile aus 5 verschiedenen Kontinenten, die er eigen und neu zusammenstellte. Tiere aus aller Welt, Feen und Wasserfall, Hindutempel und ägyptisches Grab, Schweizer Chalet und Turm der Barbarei, Mittelalterburg und Moschee, alles Kreationen, die den Palast bilden. 1969 wurde er mit dem Titel „Naive Kunst“ ausgezeichnet und faszinierte Künstler wie u.a. Niki de Saint Phalle und sogar Picasso.
Ich kann nicht wiedergeben, was ich so alles denke. Fakt ist, dass ein phantasievoller Mensch sich entschloss, seine Kreativität auszuleben und ihr Gestalt zu geben, sicher oft über seine Kräfte hinaus und absolut im Tunnel, suchte, fand und baute. Vielleicht war er getrieben, Opfer seiner Phantasiebilder, ein Perfektionist, gegeißelt von seiner Leidenschaft, süchtig nach Vollendung. Aber alles in allem ein sprachlos machendes Gesamtkunstwerk eines wild entschlossenen bewundernswerten kleinen Postboten. Unfassbar.
Das 2014 eröffnete Museum, das an den Palast angrenzt, erzählt vom Leben und den Inspirationsquellen des ungewöhnlichen Monsieur Cheval. Es gibt dort allerdings nur wenig zu sehen, wenngleich sehr ansprechend präsentiert, und ich möchte mich gerne noch etwas aufhalten, da es wunderbar klimatisiert ist, im Gegensatz zum Außengelände, wo mir die Kamera, wenn nicht sowieso vom Auge abglitscht, dann aber aus der Hand flutscht.
In 2 km Entfernung liegt der Dorffriedhof, auf dem Ferdinand Cheval nach seinem Tod 1924 beerdigt wurde. In seinem Grab, das er mit 78 Jahren noch selbst angefertigte und dessen Bau 8 Jahre dauerte, ruht er nun … und der Name, den er seinem Grab gab, sagt alles: „Grab der Ruhe und der endlosen Erholung“. Gut gemacht, Herr Cheval, alle Achtung.
Bei Rückkehr zum Womo sehe ich, dass eine große Musikanlage an der Mairie aufgebaut wird. Scheinbar tut sich hier später irgendwas. Angesichts der Hitze bleibt die Womo-Küche heute ohnehin kalt, wir werden zusehen, irgendwo aushäusig zu speisen in einem der Lokale im kleinen Nest.
In einer Pizzeria spielt eine 2-Mann-Kapelle feurig-heiße spanische Weisen. Die beiden wohlbeleibten Musikanten schonen sich, ihre Stimmbänder und Gitarren nicht, ein Tisch für 2 ist für gut eine Stunde frei, alles andere besetzt, also kehren wir flott ein. Noch ehe wir unsere bestellte Pizza vorm Gesicht haben, braut sich Wetter zusammen, aber was für eins. Es verdunkelt sich, es drückt ungemein, alles schwitzt wie nasse Säcke, unter den Sonnenschirmen steht die Affenhitze. „Bamboléo“ heizen die Feurigen ein, ein anderer fächelt ihnen mit einem Handtuch Luft zu. Es steht zu befürchten, dass sie mitsamt ihren Klampfen gleich aufgrund eines Schwächeanfalls aus dem kleinen Zelt geschleppt und beatmet werden müssen. Aber sie ziehen durch. „Volare“ ohoooo … kein Problem, die Gäste sind textsicher. Währenddessen serviert die flinke hauchdünne Servicekraft eine Ladung bunter Cocktails am Nebentisch. Zwei ältere Paare prosten sich damit gut gelaunt zu.
Und unsere Pizza kommt. Beim ersten Schnitt, noch „Na camisa negra“ mitsummend, fällt ein Hagelkorn, weitere schließen sich an, gehen blitzartig in Regentropfen über, fallen, prasseln, klatschen hernieder. Es gießt, und wie, wie aus Eimern. Wir sitzen günstig, lediglich Tischmitte wird geflutet. Anders am Nebentisch, wo sich die Situation völlig anders darstellt und zuspitzt. Eine Frau erwischt es voll durch teilweises Nachgeben des Sonnenschirmbezugs. Ein Guß schießt ihr von oben in den Rücken, beim Aufspringen klebt sich ihr blau-geblümtes Kleid unvorteilhaft zwischen Beine und Gesäß, aber Scheiß der Hund drauf, sie hebt ihr Glas mit bunter Deko und grasgrünem Gesöff, zuppelt sich den Sommerstoff aus den hinteren Ritzen, sie ist in einem Alter, da kann man alles tragen, und wenn nicht, ist es auch Privatsache.
Unsere beiden unermüdlichen Gipsy Kings, Vollprofis in Sachen Improvisation, kramen aus ihrem Repertoire die passende Untermalung heraus, scheitern kläglich nach einer halben Strophe mit ihrem „I’m singing in the rain“ in Ermangelung des Liedtextes, hoffend im Rund der Gäste suchend, ob die Menge nicht einfach mit Worten einspringt, schwenken dann nach zwei Strophen Summen gewagt und inbrünstig um auf „Oh sole mio“, das dann etwas den Moment entschärft und dankend begrüßt wird von den Massen.
Die vorhochzeitliche Truppe mit der Braut, die keine ist, im rosa Kleidchen und mit goldenem Rapunzelzopf, hat etwas mehr mit der Situation zu kämpfen. Geplant war das wohl ganz anders. Vermutlich ohnehin im Tragen von Tüll-Satin-Fummeln unerfahren, sieht man dem jetzt noch Junggesellen an, wie unangenehm ihm das alles ist, wie unwohl er sich fühlt im klammen Dress, auch weil sein güldener Zopf scheinbar schwer regennass tropft und er dauernd daran herumwringen muss. Die Kumpels versuchen gemeinsam mit der hauchdünnen Serviererin, den Teil des Tages, der ja nun mal unvergesslich werden soll, irgendwie zu retten, schieben Tische und Stühle in trockenere Bereiche, drehen Bordüren der Schirme zusammen, um Lücken zu schließen.
Aber gnadenlos bahnt sich das Wasser seinen Weg, rinnt unterdessen auf den Salat der unsympathischen Frau zwei Tische weiter. Geschieht ihr recht, lachte sie doch eben noch hämisch über ihre Geschlechtsgenossin mit dem hintenrum eingeklemmten Sommerkleid. Diese hat sich mittlerweile, im Gegensatz zu der Salatbestellerin, sowieso richtig gefangen, genießt ihren Drink und den Abend, hat Spaß und ein „et kütt wie et kütt“ im Gesicht. „Leilola leilola la leilola“ in Endlosschleife zum Besten gegeben, mit letzter Kraft und letztem Saft und zusätzlich rhythmischem Händeklatschen im Flamenco-Takt, sacken die zwei spanischen Troubadoure in sich zusammen und auf einen Hocker, strecken die Beine von sich, sehen etwas aus wie aufgeplatzt in ihren fast knielangen schwarzen TShirts, die eigentlich von der Farbgebung her strecken sollten.
Und während der handtuchwedelnde Saunaboy nochmal alles gibt, die Hauchdünne die Situation zunehmend in den Griff bekommt, dekorieren sich die Junggesellenabschiedfeiernden in einer Art Zeremonie mit bunten Schärpen und freuen sich. Die Unsympathische schiebt ihren Salatteller beiseite mit einem Blick, der ihrem männlichen Gegenüber signalisiert, er sei ihr ohnehin zu fett gewesen, steht auf und geht, und ihr Begleiter nicht anders kann, als ihr wie ein bedröppelter Pudel nachzuschlurfen.
Unsere Pizza schmeckt. Wochenlang kein Regen, dann das. Wohl dem, der den Knopf hat, der verhindert, dass einem der Kragen platzt. Das blau-geblümte Sommerkleid wird trocknen, für wunde Stellen in Hautfalten gibt’s heilende Cremes, die blonde Perücke ist flott vom Kopf gerissen und irgendwann wird man sich erzählen, wie hinreißend er damals in dem schweinchenrosa Tüllkleidchen aussah. Ohne Gewitter wäre das doch alles nichts gewesen. Und trotz Gewittergrollen und hernieder plätscherndem Regen, trotz überlauter Musikbeschallung, Mobiliar rücken und ungewöhnlichem Hin und Her, tangiert das unser Chianga-Mäuschen nicht die Bohne. Gelassen bis in jede Fellspitze liegt sie uns auf ihrem blauen Deckchen ruhig zu Füßen, als würde sie von dem ganzen Gedöns nichts mitbekommen. Denkste, sie merkt sehr genau, wann ich meine Nahrungsaufnahme beende, denn dann wartet ja ein Fitzelchen Leckerchen auf sie. Und das verpasst sie nie, dann wird sie hellwach, dann setzt sie sich in Position, egal bei welchem Gedöns! Da kann man sich drauf verlassen.
Nur, was ist aus dem spanischen Musik-Duo geworden? Nachdem einige Gäste über die Kabel der Anlage gestolpert sind, da die Abdeckungen vom Regenguss weggeschwemmt wurden, sehe ich sie etwas herum richten und lamentieren, Lebensgeister evtl. schon wieder bei 27 %. Sie werden ihr nächstes Konzert planen können, es sei denn, ihr Handtuchwedler macht schlapp, denn der hängt jetzt wie ein leerer Luftballon ermattet auf einem Stuhl. Er hat alles gegeben.
Was wäre die Welt ohne Kleinigkeiten? Was wäre eine Reise ohne Überraschungen? Im Moment leben wir selbige, auch recht froh darüber, dass es ein klein wenig abgekühlt ist, was sich aber beim Gang durch die Gassen nicht bewahrheitet. Mag sein, ein wenig kühler, aber jeder Tropfen scheint auf glutheißem Asphalt dreifach zu verdunsten. Leider hat das Gewitter wohl die große Runde am zentralen Platz gesprengt, erst nach und nach trudeln die Besucher wieder ein. Die Band spielt ganz ordentlich, an den Tischen sitzen die Leute vor Tellern mit gemischten Wurstsorten, Schinken und Paté. Jeder greift einfach mal zu. Im Gemeindehaus feiert man irgendeinen 40. Geburtstag. Eine Ecke weiter spielt eine weitere Kapelle. Wir finden nicht heraus, ob es ein Musikfest oder ein Straßenfest oder was auch immer ist. Es zieht letztlich viele Besucher an bis in die Nacht.
22.06.2025 Sonntag
Glücklicherweise hat es kein weiteres Gewitter gegeben, so dass wir während der Nacht wenigstens alle Luken offenhalten konnten. Auf dem Platz hier kann man alles ver- und entsorgen, was wir auch tun. Am Automat werden 10 € von der Karte gesaugt, kurz und schmerzlos. Wir können weiter und verlassen das kleine Nest Hauterives in der Gewissheit, dass wir uns den Film über Monsieur Cheval und sein Werk irgendwie nochmal aus dem Netz fischen und anschauen werden.