Estland ~ Pärnu ~ Peipsi järv

22.08.2021 Montag

Rundum die wenigen, die mit uns im grünen Gras standen, sind abgefahren. An dem ein und anderen Wohnwagen sieht man Leute, die alles winterfest machen. Die Saison neigt sich wohl peu a peu dem Ende zu. Trotz „rosiger“ Aussichten werden auch wir heute weiterziehen und es den über uns hinweg ziehenden Vogelscharen gleich tun, nur nicht Richtung Süd, sondern gen Nord. 

Mit einem geplanten kurzen Zwischenstopp an der Küste wollen wir heute über die Grenze und die erste Nacht in Estland verbringen. Chianga findet noch nicht so ganz eine ihr genehme Position, sie ist da ziemlich speziell und äußerst wählerisch, wohingegen Bazou sich überall hin packt, eben ein Mann.

Wir hinterlassen ein paar Spurrillen im dichten Gras und machen uns vom Acker. An ein paar forsch dahin marschierenden Pilzsammlerinnen vorbei und nach Einkauf von ein paar Teilchen im Tante-Emma-Laden erreichen wir flott die A1. 

Schnurgerade gleiten wir dahin, sicher kein Problem die nächsten 120 km bis Pärnu, unser erstes Ziel in Estland. Die Heide blüht leuchtend rosa, große Flächen bedecken den lichten Waldboden. Farnkraut verliert schon das Grün und schimmert in der Sonne wie Rotgold. Dazwischen strecken sich Tausende von weißstämmigen Birken und die rotbraunen Stämme der Kiefern und Föhren in den Himmel. Bei solchen Farbspielen wird einem nie langweilig.

Nur 40 km sind es bis zur Grenze, die wir sang- und klanglos ohne jede Kontrolle passieren. So, das bist Du also: Estland. Dann zeig Dich mal von der besten Seite. Und es wird, ja. Abgesehen davon, dass auch hier der Aufsitzrasenmäher gnadenlos seiner Bestimmung zugeführt wird und alles so sanft macht, wirken auch die Häuschen an der Strecke so gemütlich.

Eine Ruhe verströmt alles schon auf den ersten Metern. Die wiederum erfahren wir aber nur, weil wir, zwar einen Abzweig später als geplant,  die A1 verlassen und nach links auf die „Romantiline rannatee“ abbiegen. Diese Route verläuft nah der Küste, und wir erhoffen uns schöne erste Eindrücke des für uns neuen Landes. Ich muss sagen, dass ich ziemlich aufgeregt und gespannt bin und mich mit Kribbeln im Bauch sehr darauf freue, dieses nordische Neuland zu erleben. Und wir werden nicht enttäuscht. So zauberhaft ist der Wald links und rechts, so märchenhaft die Häuschen.

Eine Pause legen wir ein am Meer in Kabli und parken unmittelbar auf einem kleinen Schotterplatz unter einem Aussichtsturm und vor weiten Dünenwiesen, durch die sich ein Steg zieht und zum Strand führt. Zwei Männer sind dabei, die Randbereiche zu mähen. Ein junger Mann spricht Wim an, auf Deutsch, man höre und staune, ist aber letztlich nicht verwunderlich, da er Düsseldorfer ist. Er macht bei einer Naturschutzorganisation hier in Estland ein soziales Jahr, möchte mal Landschaftsarchitektur studieren. Im langen Winter hofft er, 2 Monate wieder zuhause verbringen zu können. Und ja, auf meine Frage hin, auch die Esten seien oftmals verschlossener, es sei komisch für ihn, aber man gewöhne sich daran. Ansonsten ist hier keine Menschenseele, nur Natur. Lediglich in der Ferne der Bucht mühen sich im sehr flachen Wasser ein paar Wassersportler mit Paddelbrettern ab.

Die Hunde haben Spaß im Sand. Wir haben Muße, und so entstehen ein paar lustige Fotos als Folge eines „huhu, wo hat die Mama sich denn versteeeeehhhheeeeckt ???“. 

Hier muss vor kurzem die „Nacht der Rosen“ stattgefunden haben, denn eine langstielige blutrote Rose lässt sich von den sachten Wellen küssen. Die oder der, dem sie wohl zugedacht war, verschmähte sie offenbar.

Man könnte hier auch übernachten, aber es ist noch zu früh am Tag. Daher geht unsere Fahrt weiter und bald wieder über die A1. Wir passieren das erste „Achtung Elche“-Schild. Jawoll, ein Gefühl, wie damals beim Anblick des ersten „Achtung Kamele“-Schild in Marokko. Was gäbe ich dafür … wenn nun einer aus dem Wald stapfen und am Fahrbahnrand erscheinen würde. Jetzt erklärt sich mir auch, warum die Straßenränder so sehr breit und tadellos gemäht sind: Sicht auf Elche muss gewährleistet sein. Und kaum zu Ende gesponnen, da sind auch schon welche! Unfassbar! Allerdings tragen sie gelbe Warnwesten. Und haben Autos dabei. Und winken. Winken energisch. Mist … schöner Mist. Was soll das bedeuten? Polizei? Breitbeinig und -armig werden wir auf eine Parkfläche gebeten. Fenster auf. Die Polizistin lächelt. Herrlich, geschafft! Sie möchte Fahrzeugpapiere, Führerschein, Personalausweise, Impfausweise sehen, die gestern noch erledigte Online-Registrierung für Estland interessiert sie nicht. Wirklich ausgesprochen freundlich und höflich, wie auch ihre sehr gut hinschauenden Kollegen, erkundigt sie sich nach unserer Route. Nach Prüfung unserer Dokumente in einem Polizeiauto bittet sie noch, nach innen kommen zu dürfen. Ok, Hunde raus, Polizistin rein. Sie prüft, ob sich evtl. Migranten verstecken, das allerdings sehr sehr oberflächlich, kein Blick ins Bad, kein Blick in die Garage, wir scheinen „ordentliche“ Menschen zu sein. Ich erzähle ihr noch, wie spanische und marokkanische Polizisten so etwas machen, zwar keineswegs unfreundlicher, aber doch etwas genauer. Wir lachen, oh Wunder, und ein Polizist ruft uns noch schnell ein „guten Tag“ zu und auf unser Staunen hin ein „auf Wiedersehen“ und schüttelt sich vor Lachen. Estland … Du gewinnst !

Ein paar Windungen später und Überquerung des Flusses Pärnu nähern wir uns dem Jachthafen der Stadt, und damit unserem Nachtplatz. Rüdiger erleidet wieder mal einen Vollaussetzer, bietet uns kurz vorm Ziel zur Erreichung desselbigen als einzige Möglichkeit die Querung einer Fußgängerbrücke an. Allen Ernstes! Er weiß schon, wir sind über 5 Tonnen! 

Also drehen wir, was ihm nicht passt, und finden den perfekten Weg ohne Eng- oder Schwachstellen ganz alleine. Vorm Tor der Zufahrt zum Hafen müssen wir halten, im Restaurant anmelden, Schlüssel erhalten, öffnen und Platz suchen bzw. der Hafenmeister weist uns einen zu. Kurz darauf kommt ein zweites Womo, auch die wurden von ihrem Navi bis zu dieser Fußgängerbrücke gelotst. Rüdiger macht also gemeinsame Sache mit einem anderen Armleuchter, so so. Hier stehen wir erstmal gut und genießen die Sonne und den Blick auf die schaukelnden Boote im Fluss, der kurz danach in der Ostsee mündet. 

Im Restaurant speisen wir ganz lecker Kartoffel mit gebackenem Hering und Silberzwiebelchen mit Speck und schlürfen ein Bier, dass einem Bier schon etwas näher kommt als das von vorgestern in Tuja. Und auch hier geht die Sonne unter.

24.08.2021 Dienstag

Unerwartet überzieht uns der Himmel wolkenverhangen. Eine Segelschule lässt sich bei stürmischem Wind in die Fluten tauchen. Die kleinen Nussschalen kippen mit ihren kleinen kämpfenden Seglern ganz gewaltig herum. Es sollte heute noch schön bleiben mit 10 Sonnenstunden, sagte man. Dann muss das Wetter sich aber beeilen und die Besserung zackig vorantreiben. Irgendwie haben wir schon stark die Hoffnung, dass man im hohen Norden auch Ende August noch warme Tage haben kann, so als Übergang in einen sonnig-goldenen Herbst, den wir auch noch sehr gerne nehmen würden. Die kommenden Tage wird daraus aber nichts, so die Vorhersage. Hatten wir vor kurzem noch 30 Grad, sind es heute nur 12, mindestens eine Jacke, wenn nicht sogar Mütze kälter. Wir planen schon mal die Route um. Statt in vielen Etappen küstennah schlagen wir uns auf längerer Strecke ins Land ganz nach Osten zum Peipsi-See, der eigentlich für die Rückreise vorgesehen war. Sollte es aus Eimern gießen und stürmen, ist die Küste nicht so der Bringer. Die weiteren Aussichten in 5 Tagen sind dann wieder herrlich. Bis dahin werden wir uns vom äußersten Osten an der Grenze zu Russland in Estlands Norden nach Tallin gehangelt haben. Mir geht es immer gut, wenn die Route „sitzt“. So gerüstet, rüstet Wim die Räder. Manchmal fragen wir uns schon, ob ein Örtchen oder Städtchen sein muss. Manchmal ist man auch faul und träge und hängt durch. Gerade auf langen Reisen passiert so etwas immer mal wieder. Mit dem Adrenalin, wie auf kürzeren Ferienreisen, ist man dann nicht immer unterwegs, und es ist völlig legitim, dass man im Verlauf auch mal schwächelt und einen der eigene Entdeckerdrang erschöpft. Wir schwingen uns also in die Sättel, die Hunde in ihre Kisten, und fahren etwas gezwungenermaßen „wenn man schon mal da ist“ los. Was ein Glück! Was wäre uns entgangen!

Man muss sagen, dass ich schon über viele gute Radfahrwege in Pärnu gelesen habe, aber gut, las ich auch über andere Regionen, wo es dann nicht so uneingeschränkt gut war. Hier im kleinen Hafenstädtchen, bekannt und beliebt wegen der vielen Kur- und Heileinrichtungen, die seit Beginn anno 1838 von 300.000 Menschen jährlich genutzt werden, ergeht es einem als Radfahrer hervorragend. Wunderschöne glatte Wege führen uns zunächst in das Mündungsgebiet der Pärnu in die Ostsee. Lange Sandstrände ziehen hier ganz sicher viele Menschen an.

Heute morgen sind nur ein paar Spaziergänger unterwegs und ein paar Sandflöhe, aber die der großen Gattung. 

Auf der Strecke liegen Kurhotels und Appartmenthäuser. Viele alte Gebäude stehen tadellos neben hochmodernen Bauten. So auch alte Pavillons neben neuen Spielbereichen für Kinder und Skulpturen in perfekt gepflegten Grünanlagen. 

Ein in Stein gehauener Adonis, dem alle - aus meiner Sicht - wichtigen Gliedmaßen abhanden gekommen sind, ragt aus einer der Parklandschaften hervor. Wenig später weiß ich, dass er der einzige nackte Mann hier bleiben wird, quasi Einzelstellung genießt. Denn der anschließende Strand ist ein nur für die Damenwelt ausgewiesener FKK-Bereich. Tja, meine Herren, Sie können sich also getrost was überziehen.

Überhaupt fallen eher die zahllosen Vergnügungs-, Spiel- und Sportbereiche auf, wie schon in Litauen. Ob Minigolf oder Kletteranlagen, Karussells für Kinder oder Sandplätze für Jugendliche, alles ist überall vorhanden. Dazu wiedermal zahllose Sitzmöglichkeiten und viele kleine Strandbars von hutzelig bis hypermodern. Also hier können Familien sicher tolle Ferientage verbringen. 

Wir radeln weit hinaus, der Radweg ist immer noch perfekt, und selbst in den Außenbereichen vollstreckt der Aufsitzmäher, kehren dann aber um, um die Stadt zu besichtigen. Muss ja sein … 

Bauklötze, ja wie viele wir gestaunt haben? Man weiß es nicht. Vergessen das Grau, vergessen die Kälte, nur staunen. Schnuckelhausen in Perfektion. Farbe, wohin man schaut. Eine Architektur, die eigentlich nur froh und frei stimmt und eine zauberhafte Atmosphäre auf jedem Meter verströmt, einen an Beeren und Sahne denken lässt oder an den Duft von frisch gebackenem Kuchen.

Viele Parks ziehen sich durch das Städtchen mit bewegter Vergangenheit, das einst zu der Hanse gehörte.

In einem kommen wir zufällig vorbei an grünen Elefanten. Ja, keine Fatamorgana. Lebensechte Elefanten in Grün, ähnlich wie ein blaues Wunder. Sicher sind sie Schutzpatron der Aufsitzrasenmäher. Im Moment habe ich keine andere Erklärung, da ich versäumt habe, die Info-Tafel zu lesen. Jedenfalls beeindrucken sie und fordern zum Streicheln und Knuddeln auf, jedenfalls einige Frauen und Kinder, die Männer weniger. 

Die Altstadt erreichen wir und finden auch das Hauptgässchen Rüütli, klingt Schweizerisch, sieht aber nicht so aus. Blitzsauber, wie überall auf unserer Tour, springen einen Farben, Fassaden, Blumen, Gässchen und und und förmlich an und halten einen fest. 

Natürlich reiht sich Bar an Café und umgekehrt, aber es wirkt alles sehr authentisch, es fügt sich alles wunderschön in die alte Bausubstanz ein. Inmitten solch einer Kulisse schmeckt nur eins: Kakao. Ein Päuschen legen wir ein und dürfen uns erneut von der Dreistigkeit der Spatzen überzeugen, die hier allerdings von der der Krähen übertroffen wird. 

Auf dem Rückweg fällt uns die Witterung von Fettgebackenem in die Nase und die entsprechende Türklinke des Lädchens in die Finger. Welch eine Wonne! Kringel, goldgelb, ein Hauch Puderzucker, warm. Etwas Warmes braucht der Mensch. Hinein damit. Mannomann, sind die lecker. 

Und wiedermal werden Erinnerungen an Marokko wach, an Tiznit, immer am späteren Nachmittag, da ließ er sie schwimmen, der Bäcker an der Ecke der Moschee, die köstlichen Kringel. Und Wim fuhr häufig nur deswegen hin. Ach ja … aber hier ist es auch herrlich, denke ich so.

25.08.2021 Mittwoch

Plan steht: Abfahrt. Vorhersage: grausig. 

Aber nützt nix. Camping ist Camping. 

Wir zahlen pro Nacht 15 €, der Betrag, der auch in unserem ganz aktuellen Reiseführer steht. Bei Anmeldung informierte man uns jedoch, dass es 25 € kosten solle. Auf meine doch energische Verblüffung hin, wollte man das nochmal prüfen. Heute erklärt man uns, dass der Preis seit Montag wohl 25 € betrage, wir aber dann „nur“ 15 € zahlen müssen. Komische Logik, so am Saisonende. Aber es verläuft alles freundlich, dennoch bleibt ein ungutes Gefühl. Dabei will ich nochmals betonen, dass wir überhaupt keine Pfennigfuchser sind, im Gegenteil. Aber trotz Preisangaben in einem flammneuen Reiseführer haben wir bisher auf keinem !! Platz den Preis bezahlen dürfen, sondern immer mehr. Und wenn es dann die 20€-Marke knackt und Strom gern mal 3€ extra kostet, es eine Dusche (ob man sie braucht oder nicht) sehr häufig nicht gibt und V+E nicht möglich ist, ja dann hört der Spaß, bei allem Verständnis, irgendwo auf. Hier können wir aber noch Wasser fassen, Abwasser und Kassette werden wir nicht los. 

Unreiselustige Hunde fragen, ob es denn sein muss, suchen sich Plätze, die nicht möglich sind, Chianga neuerdings den hinter dem Rückenpolster. Die kommt auf Ideen. Manchmal ist es zum Schlapplachen. 

Aber irgendwie schaffen wir die Abreise unterm Schlagbaum hindurch und erwischen noch ein paar Blicke auf sehr außergewöhnliche Bauwerke, bevor es über die Brücke über den Pärnu Jogi (Jogi = Fluss) geht. Überhaupt ist das eine so spezielle Sprache. Noch ist unser Sprachschatz Null. Hieß „Straße“ in Lettland noch „iela“, so sagt man hier „tee“. Man wird vorsichtig sein müssen, wenn man Kamillentee bestellt. 

Die Fahrt führt quer durchs Land. Die Straße ist perfekt, zum Teil zweispurig und sehr wenig befahren. Die Landschaft überrascht eigentlich nicht, langweilt eher, ist platt mit viel Ackerland und Viehwirtschaft. Vor den langen Waldstücken rechts und links warnt sehr häufig das „Elch“-Schild. Und während ich wiedermal nachdenke, wie flott ich die Kamera, die ich ohnehin dauernd in den Händen halte, parat hab, im Fall des Falles, steht ein Reh am Straßenrand. Und was ist: verschwommen. Ich muss einfach lernen, die Schrecksekunde zu minimieren. Sonst seh ich Schwarz für einen scharfen Elch.

Auf solchen Touren, die heutige ist 180 km lang, denkt man oft an alles Mögliche. So fällt mir wieder ein, was dieser Mann bei unserer Ankunft im Jachthafen Pärnu von sich gab. Als wir eingeparkt hatten und ich ausgestiegen war, kommen ein paar Männer von irgendwo her, nah am Womo vorbei, murmeln etwas, ich schau hin, worauf ein Älterer mit verkniffenem Gesicht zu mir raunt: „Deutschland, Deutschland, über alles.“. Meine Frage, was er denn damit sagen will, beantwortet er nur mit einem verächtlichen Grinsen, meine weitere Frage, ob er nicht alle Latten am Zaun habe, gar nicht. Ich weiß nicht, welche Nationalität er hatte, spielt auch keine Rolle für mich, gern hätte ich aber erfahren, mit welcher Begründung er meint, mir diese Passage vor die Füße werfen zu können. 

Wird sich nicht klären, wie der Himmel im Verlauf ebenfalls nicht. Aber wir haben uns ein hoffentlich ganz freundliches Plätzchen für die nächsten Tage gesucht, ein Gästehaus, das auch geschotterte Womo-Plätze bietet. Und kurz vor Tartu, der ältesten und zweitgrößten Stadt Estlands, geht es von der Hauptstraße rechts einen Kilometer ab über ein schmales Sträßchen und in die Einfahrt zum Gastgeber. Hui, rechts ist ein kleiner Figurenpark im lichten Wäldchen auf perfektem - was sonst - Rasen aufgebaut, propper leuchten uns die Gebäude mit üppigen Petunien in kräftigem Pink im Regengrau entgegen, und links schmeißt sich ein zotteliger Hütehund in Größe eines Ponys in die Kette und bellt in eindeutiger Art und Weise, dass jeder gleich Bescheid weiß. 

Eine Lücke wählen wir, wir haben freie Wahl, kein weiterer ist hier. Am Haus inmitten perfekt gepflegter Gartenanlage erscheint auf Klingeln eine Frau, begrüßt uns sehr freundlich, weist uns auf Englisch ein, Duschen und WC gibt es, Wlan, ein Grillhaus, eine große Küche mit locker 5 Herden, Spültischen und riesigen gusseisernen Brattöpfen, was ich auf die Schnelle so sehen konnte. Wasser gibt’s in der Garage ums Eck, Entsorgung im Kanal ebenfalls möglich. Alles da, alles bestens. 15 € kostet es, 3 € Strom. Da kann man doch nicht meckern. Wir sind sehr zufrieden, auch wegen unserer Kursänderung. Soll es dann mal ein paar Tage blästern, wir stehn gut und warm. Und wer weiß, vielleicht tritt doch noch ein Elch auf die große Wiese vor dem Wald, auf die wir blicken. Ein Reh sprang schon über den Waldweg auf der Hunderunde. Und sobald der Himmel aufklart, geht‘s am großen Peipsi-See entlang nach Norden. 

26.08.2021 Donnerstag

Aus dem Plan, einen Tag zu bleiben, wird nichts. Wim möchte weiter. Also packen und erstmal zwecks größerem Einkauf in Tartu anhalten. Der Rimi hat alles. Und nicht nur das, sondern modern und super sortiert, man wähnt sich in einem der Lebensmittelpaläste in Frankreich. Gut, Tartu ist eine große Stadt mit gut 100.000 Bewohnern und allein 14.000 Studenten, also sicher sehr interessant, lebendig und jung trotz der sehr alten Wurzeln. Uns steht aber der Sinn nicht nach Stadt. Ein paar Schönheiten können rechts und links beim Durchfahren der Stadt aufgeschnappt werden, dann hat uns das Ländliche wieder. 

Ganz sanft hügelig ist es, viele Getreidefelder, viel Wald. Die extra gewählte Nebenstrecke Richtung See umfährt auch nur ein paar Dörfchen, was schade ist, da wir vom Leben hier noch nicht wirklich etwas mitbekommen haben. 

Irgendwann gibt der Waldgürtel den Blick auf den Peipsi järv frei. Bei bewölktem Himmel ist es leider kein Blick ins Blaue, vielmehr auf braun-graue Fluten mit ordentlich Wellen. Von den vielen Möglichkeiten, auf Wiesengelände frei an diesem riesigen See, der acht Mal größer als der Bodensee ist, zu stehen, nehmen wir Abstand, ist leider nicht gemütlich. Wir peilen einen kleinen Hafen an einer Flussmündung an. Da hat man wenigstens noch die Boote als Farbtupfer. 

Mit einer großen Polizeistation als Nachbar lassen wir uns auf einem geschotterten Bereich am Flussarm nieder. Wenn Sonne wäre, wenn Stühle raus könnten, wenn das Seeufer und sogar ein Bad im See locken würden, ja dann wäre es sicher paradiesisch, auch weil ringsum viel Platz ist, das Dörfchen im Rücken. So ist der einzige Lichtblick im Moment eine fette noch lauwarme Pizza aus der heißen Rimi-Theke und ein Glas Wein. Auch nicht übel. Und wir werden sehen, was der morgige Tag bringt. 

27.08.2021 Freitag

Der heutige Tag bringt die Möglichkeit, das Thema „Tropfenfotografie“ zu vertiefen, das hatte ich ohnehin schon lange vor. Leider schleicht sich das Regengrau nicht, es weitet sich eher noch aus und schleicht sich ins Innere unseres Concördchens und schlägt auf’s Gemüt. Auflockerung muss her. Lösungs- und zielorientiert befrage ich mein Orakel: „ipad ipad ich frage Dich, hast Du nicht ein interessantes Ziel für mich?“ Und es erhört mich mit den Worten: „Ja, ich ipad könnte was sagen Dir, aber zieh mal den Baedecker zu Rate hier.“ Gesagt, getan. Empfehlung geht in Richtung Uferstraße. Wim, zwar wild entschlossen, dem See den Rücken zu kehren und direkt Narwa im äußersten Nordosten Estlands anzusteuern, lässt sich überzeugen, und wir starten am Ufer entlang. Hier reihen sich etliche Dörfer hintereinander, dazwischen versteckt in den Wäldern zahllose Hüttchen, Hütten und Häuser. Zunächst nehmen wir die Fernstraße 3, dann aber wagen wir die 111, weil wir näher ran wollen. Am Straßenrand passieren wir viele kleine Verkaufsstände. Man nennt die Route auch die „Zwiebelroute“. Die Menschen hier bieten die Früchte ihrer Arbeit und auch Räucherfisch an und freuen sich sehr, wenn jemand anhält und einen Einkauf tätigt. Aber heute sieht man nur selten jemanden in den kleinen Buden. Auch Wohnwagen stehen als Verkaufsraum an der Straße, ein komisches Bild, werden diese doch in unseren Regionen eher für andere Geschäftsmodelle genutzt. Die Straße ist in einem tadellosen Zustand, so macht es wirklich Freude, durch die Schneisen in den lichten Wäldern zu zuckeln ohne Eile. 

Am Nordufer des Sees soll es besonders schön sein, weite Sandstrände soll es geben. Also muss irgendwo ein Stopp eingelegt werden. Schwierig ist es, da alle Einfahrten verboten oder versperrt sind, da sich am Ende jeden Stichs in den Wald ein Häuschen befindet. Und gibt’s mal eine Möglichkeit, dann sieht man es erst beim Vorbeifahren, und ein langes Vehikel auf schmalem Sträßchen mal eben wenden, klappt auch selten. Dank Google earth - was würde ich ohne machen? wie reisten wir eigentlich früher? - erreichen wir punktgenau eine Parkmöglichkeit mit Pfädchen zum Ufer. Ein paar Schritte über federnden Föhren-Waldboden, auf dem wir zum ersten Mal herumliegenden Müll sehen, und der Blick fällt, wie in einem Guckkasten, auf Sandstrand, auf hellen feinen breiten Sandstrand. Meine Güte, welch eine Weite und Stille. Sehr viele tote kleine Fische liegen angespült im Sand. Ob das verschmähte Reste der Vögel sind oder von Fischern, wir wissen es nicht. 

Übrigens ist seit geraumer Zeit kein Regentropfen mehr gefallen, an dem Tag, der eigentlich so miserabel begann. Ich muss daher leider leider meine Tropfenfotoversuche verschieben und widme mich stattdessen dem Spiel unserer Hunde, deren Erscheinen am Strand für sofortige Aufruhr in der großen Silberreiherkolonie sorgt. Bazou und Chianga toben wieder mal mit einem Ganzkörperstrahlen durch den Sand und rennen sich die Seelen aus dem Leib. Es ist einfach immer wieder pure Lebensfreude, die in den Sand gesetzt wird, und das im ganz positiven Sinne.

Da das südöstliche Ende Estlands in greifbarer Nähe ist, wollen wir dem doch auch noch einen Besuch abstatten und uns den Grenzverlauf im Fluss anschauen und nach Russland rüber gucken. Das Örtchen Vasknarva liegt am einzigen Austritt des Peipsi järv, der Narva. Es hat nur knapp 70 Einwohner, fast ausschließlich Russen. Sofort bei Einfahrt ins Dorf fällt einem die imposante russisch-orthodoxe Kirche auf, der ein Frauenkloster angeschlossen ist.

Um die Ecken dieses Komplexes herum gelangen wir über einen Schotterweg, den Wim natürlich vorher zu Fuß begangen hat, auf einen großen Platz direkt am Fluss mit malerischem Blick zurück auf die Kirche. Hier ist eine Grenzschutzstelle. Nachts darf man sich hier nicht aufhalten. Es gibt strenge Regeln für Boote, vermutlich so streng, dass erst gar keine am Anlegekai liegen.

Dafür liegen, stehen und fliegen Unmengen Vögel auf schilfigen Streifen im Fluss. 

Der Grenzverlauf ist markiert durch orange Bojen, die russische Fahne unübersehbar am anderen Ufer gehisst. Ein älteres Paar angelt. Ich spreche die Frau an, frage nach ihrem Fang. Sie ist sehr freundlich, versteht sofort, was ich meine, lacht und zeigt mit den Händen, dass sie nur kleine Fische erwischt habe. Und ihr Mann? Da winkt sie ab, und ich sehe ihren Spaß in ihren Augen nach dem Motto: „Der fängt sowieso nie was Ordentliches!“. Ich liebe diese Momente, in denen man keine gemeinsame Sprache spricht, dennoch genau weiß, was und wie der andere etwas meint. Mein „spaciva“ freut sie sichtlich, sie winkt mir zu. Und mit einem Foto der letzten Blümchen vor Russland klettern wir wieder in unser Womo.

Da uns der Platz hier als Nachtlager nicht dient, drehen wir eine Runde durchs Dorf und fahren zurück zur Hauptroute, denn das Dorf ist eine Sackgasse.

Zu spät, um Narwa anzufahren, wird nun noch eine weitere Station eingefügt: in Kuremäe das russisch-orthodoxe Nonnenkloster Pühtitsa, begründet 1891, und eines der wenigen, die während der Sowjetzeit betrieben werden durften. Man kann außen besichtigen, innen nur nach Termin mit den Klosterfrauen. Daher bleibt es bei einigen Fotos des prächtigen Klosters und dem Besuch des angrenzenden Friedhofs. Es ist beeindruckend, wie viele Grabstätten um eine Kapelle herum liegen und wie sorgsam einige Frauen das Gelände pflegen. Eine Nonne spreche ich an. Ja, es seien alles Schwestern, die hier beerdigt seien, alles auf Russisch, wir verstehen uns nicht, und doch auch wieder. Ein paar Frauen streichen das Geländer. Eine spricht mich an, sie spricht sogar Deutsch. Ich frage sie, wo denn die Brüder seien, die sollten eher solche Arbeiten erledigen. Die Nonnen lachen. Sie würden nur für schwere Arbeiten gerufen.

Unterhalb des Klosterhügels gibt es eine Quelle, ein heiliger Ort für die Esten. Wim schnappt sich eine leere Wasserflasche und geht zur Quelle, der man heilende Wirkung nachsagt. Wie er erfährt, soll sie speziell Augenleiden lindern. Auch ein Tauchbecken wurde errichtet, Ganzkörperheilung wäre auch für uns nicht schlecht bei all den Zipperlein, die sich so nach und nach einstellen und nicht mehr gehn. Jedenfalls wird sich meine Mutter über das Quellwasser freuen. 

Nun ist es schon spät, und wir beschließen, auf dem die ganze Zeit total leeren Parkplatz unterhalb der Klosteranlage zu nächtigen. Hier wird einem nichts passieren.