Litauen ~ die Kurische Nehrung

05.08.2021 Donnerstag

Märchenhaft wäre es gewesen, wenn das Concördchen nach der vergangenen gemeinsamen Nacht im Memel-Delta mit Jana aus Cuxhaven bald eine Flotte kleiner Buddelschiffe hinter sich herziehen könnte … aber es kam wohl nicht zum Äußersten, auch wegen Anstandsherr und -dame. So verabschieden wir uns bei Wetter zum Helden zeugen - oder auch nur Märchen erzählen - von dem ruhigen Plätzchen hier im Hafen von Minija. Der Hafenmeister, der so gerne segelt, seine Frau aber lieber mal mit einem Womo reisen würde, nimmt gern unser Visitenkärtchen an, damit seine Frau schon mal Bilder gucken könne, wie er sagt. Ob das wohl die Lust auf eine andere Reiseart befriedigen oder bremsen wird? Wir wagen es zu bezweifeln. Der echt freundliche Hafenmeister wird es arg bereuen! Er öffnet die Schranke und entlässt uns in die Freiheit bzw. auf die Waschbrettpiste, die auf den Fotos seltsam harmlos rüber kommt, aber wehe man muss sie abreiten. Weites Land, ja wäre man Cowboy, man säße einfach besser im Sattel und müsste sich nicht über ein Navi ärgern, das quasi neu ist und einen Aussetzer nach dem anderen produziert. Hoffen wir mal, es liegt an momentan nicht durchgängiger Stromversorgung und einer gewissen schwankungsbedingten Reiseunpässlichkeit. Denn ein zweites Navi haben wir nicht dabei, wäre aber in Klaipeda möglicherweise zu bekommen. Klaipeda steht nämlich entgegen erster Planungen nun doch auf dem Programm, da wir mit Womo übersetzen wollen auf die Neringa, die Kurische Nehrung, und nicht von der Haff-Seite aus mit einem Boot als Tagestouristen.

Und schon erblicken wir den Asphalt am Ende der Schotterstrecke. Es geht wieder zivilisierter zu. Schöne Delta-Dörfchen reihen sich aneinander. Ach ja, verweilen wäre auch toll. Es gäbe noch viel zu entdecken. 

Näher kommend an Klaipeda ändert sich natürlich das Umfeld. Logistikunternehmen und Fabriken reihen sich aneinander, erste Haffengiraffen kann man sehn. Wir peilen das kleinere Hafenbecken an, da dort die Fähre zur Kurischen Nehrung ablegt und gelangen problemlos - der Navi-Rüdiger hat sich wieder bekrabbelt - durch große Kreisverkehre mit reichlich Verkehr und irrwitzig schraffierten Flächen, auf denen man Halma oder Mühle spielen könnte, zum Tickethäuschen. 26 € kassiert eine sehr lustige Schalter-Frau, deren Foto die spaßige Situation nicht hergibt. 

Und schon werden wir über eine zugewiesene Spur sofort auf die Fähre gelotst. Es rumpelt stark, aber nur Blech, wir setzen nicht auf, und mit einem krachenden Scheppern fährt hinter uns die Ladeklappe hoch und rastet ein. Zu. Los geht‘s. Gefühlte 10 Wimpernschläge später das gleiche Spiel nach vorne raus, und die Nehrung hat uns.

In mir lösen sich Erinnerungen an die Erzählungen meiner Oma, die, wie schon gesagt, niemals hier lebte oder irgendeine Verbindung gehabt hätte, außer eben ihre Brüder, die der Krieg hierher befehligt hatte. „Die Kurische Nehrung“ … geheimnisvoll und etwas bedrohlich, so hab ich den Klang und das langgezogene Aussprechen dieser 3 Worte im Ohr. Und es hallt nach. Jetzt. Leider verband meine Oma damit nicht die (harmlose) Legende, die sich um die Neringa rankt. Und wo wir den Tag schon mal mit dem „Märchen von den kleinen Buddelschiffchen“ begonnen haben, erzähle ich nun das irgendwo aufgelesene „Märchen von der schönen Riesin Neringa“.

Es war einmal … in der Gegend des Kurischen Haffs eine schöne Frau, man nannte sie Neringa, sie war eine Riesin. Die Menschen liebten diese gütige liebe Frau mit ihrem blonden, goldschimmernden, langen Haar, weil sie in Seenot geratene Fischerboote rettete und den Fischern die Fische in die Netze trieb. So mancher liebäugelte mit ihr und hätte sie gerne zur Frau gehabt. Aber nur einer konnte ihr Herz erobern: Naglis, Burgherr der Burg Venté. Die Nachricht der bevorstehenden Hochzeit aber erzürnte den Wellengott Bangputys, ein ganz Großer der litauischen Sagenwelt, so sehr, dass dieser wild wütete und die Brandung der Ostsee hoch aufbäumen ließ. Neringa wusste sich und allen zu helfen: sie sammelte in ihrer Schürze sehr viel Sand und türmte damit vor der Ostseeküste einen hohen Erdwall zum Schutz auf. Die Gefahr einer Überflutung war gebannt, die Hochzeit konnte gefeiert werden und die Fischer seither ungestört im Haff fischen im Schutze der nach der Riesin benannten Landzunge: Neringa.

Spuren der Neringa lassen sich auf unserer Fahrt auf der 50 km langen Strecke bis zum einzigen CP der Nehrung noch nicht wirklich entdecken. Im Gegenteil: wir werden wachgerüttelt. Die Straße ist so schlecht, so grottenschlecht, gewölbt und teilweise Loch an Loch und Welle an Welle. Ganz offensichtlich wütete der Wellengott unbemerkt hier in diesen Bereichen, während Neringa den Schutzwall errichtete. Ja, man hat manchmal nicht Hände genug. Schlimm. Schneckentempo also wieder angesagt, obwohl an einem Punkt 30 € Maut gezahlt werden müssen. Wird vermutlich für Naturschutz ausgegeben, für Straßenbau kann es unmöglich sein.

Schon im ersten größeren Ort Juodkranté fallen die vielen parkenden Autos und die Menschengruppen auf. Es herrscht viel Betrieb überall. Das nimmt Richtung Nida zu und knubbelt sich regelrecht. So ein ungewohntes Bild, man erschrickt richtig. Na ja, morgen wird alles per Rad erkundet, im Freien sind zweifach Geimpfte nicht so ganz zur gefährdeten Gruppe hinzuzurechnen.

Der CP liegt mitten auf der Nehrung, Nähe Nida, einen Steinwurf fast nur von der russischen Grenze entfernt. Uns wird ein freier Platz unter Kiefern zugewiesen, nicht so schön, dafür sehr eng, incl. 5 to einparken in 12 Zügen, 35 €, mit typischem CP-Betrieb. Gut, Auswahl gibt es hier auf der Nehrung keine. Froh daher, hier noch einen freien Platz zu erwischen, lassen wir es weniger märchenhaft Abend werden.

06.08.2021 Freitag

Der gestrige Wetterbericht zeigte ein aufziehendes Tiefdruckgebiet, was sich heute morgen bestätigt. Bei nur 18 Grad ist der Himmel noch in freundlichem Hellgrau und dicht. Zuversichtlich rüstet Wim die Räder. Unser erstes Ziel soll Russland sein, na ja, der Grenzposten irgendwo ein Stück weiter von hier an der einzigen Straße auf diesem 98 km langen und an der schmalsten Stelle nur 380 m breiten „Strich“ vor der litauischen Küste, betrachtet vom Satellitenbild. Es weht ein heftiger kalter Wind. Er kommt vom Westen. Solche Winde, sagen die Geologen, haben diese Landzunge entstehen lassen und geformt. Auf eine im Meer liegende Hügelkette wehte der Westwind nach der letzten Eiszeit stetig Sand über Jahrhunderte hinweg, und irgendwann hatte sich die Nehrung gebildet. Seit 2000 gehört sie zum Weltnaturerbe und ist in ständiger Bewegung. Naturschutz muss ganz groß geschrieben werden, auch weil Massen von Besuchern die Einzigartigkeit erleben möchten und zweifelsfrei alles zugrunde treten würden, gäbe es nicht ganz strenge Regeln.

Nach knapp 5 km durch den lichten Wald kann man die Grenzstation erkennen. Mehrere Gebäude und Schlagbaum-Anlagen sichern alles ab. Höchste Vorsicht ist geboten, ohne Quatsch, denn wir stehen hier an einer Außengrenze der EU mit entsprechenden Einreisebestimmungen und Grenzkontrollen. Die Hunde bleiben schon mal im Hänger, fehlt noch, dass einer einen Ausflug macht und einkassiert wird. Hier war lange genug zu Zeiten der Sowjetunion alles hermetisch abgeriegelt und militärisches Sperrgebiet, damit unzugänglich für die zivile Bevölkerung. Wer die Grenze, selbst wenige Meter, illegal überschreitet, muss mit der Festnahme und ggf. Haftstrafe durch die russische Grenzpolizei rechnen. Das gilt auch im Falle eines illegalen Grenzübertritts zu Wasser, z. B. für Schwimmer. Da steht man dann schön da, abführen, marsch marsch, und das in nasser Badehose. Wir sehen zwar keinen russischen diensthabenden Grenzposten, gehen aber gesichert davon aus, dass man uns sieht und darüber nachdenkt, welche „Güter“ in den Hängern stecken. 

Lieber fahren wir wieder zurück, vorbei an dem litauischen Mauthäuschen, das durch angebautes Zeltdach zweckentfremdet als Corona-Testzentrum genutzt wird. Litauische Autos brausen nämlich heran, wenden vor der Schranke zu Russland und fahren ins Zelt hinein, wo eine in Ganzkörperhülle steckende Frau die Testung durchführt.

Nun freuen wir uns auf das Örtchen Nida. Aber irgendwie scheint sich der EU-Geldsack geöffnet und Litauen mit einem Batzen versorgt zu haben, der für Straßenbau mit Gehweganlagen eingesetzt werden muss. Auch hier in Nida, wie schon in Kaunas, stecken wir in Baustellen, komplett ohne Straßenbeläge, absolute offroad-Strecken, fast unüberwindbar hohe Bordsteine, über die Räder und Hänger nur gehoben werden können. Und das alles zwischen extrem hohem Verkehrsaufkommen, stauenden, suchenden und parkenden PKW und „schwerem Gerät“ für Tiefbau. So wenig schön, eher Totalmist! 

Wir erreichen irgendwie mit mutiger Entschlossenheit das Ufer am Haff. Heute ist nichts mit spiegelglattem Silberlaken, nein, die Oberfläche brodelt, schäumt, und die Farbe ist eher bescheiden-braun, ähnlich einer total versauten Bratensauce. Dazu herrscht richtiger Sturm. Es ist schade, aber nicht zu ändern. 

Viele Menschen spazieren, radeln, sausen mit E-Scootern, die man hier überall leihen kann, auf der Promenade an den schönen Fischerhäuschen in der baltisch-skandinavisch typischen Farbe „Ochsenblut“ vorbei. 

Die sehr noblen „Farbkleckse“ in Bestlagen und leuchtendem Niddener-Blau werden belagert von hochpreisigen Karossen deutscher Automobilhersteller mit litauischem Kennzeichen. Unglaublich, was hier alles parkt und fährt. Ist wohl eine Art „Sylt“. Hier muss man sehen und gesehen werden - und dies ist nicht abfällig zu verstehen.

Vom Wind gebeutelt erreichen wir am Ortsende das Sommerhaus von Thomas Mann, das er hier bauen ließ, da ihn die Aussicht an die italienische Riviera erinnerte. Seit 1930 nutzte er das Haus mit den typisch sich kreuzenden Pferdeköpfen als Firstkrone nur für drei Sommer. Nachdem ihm nämlich ein halb verbranntes Exemplar seines Romans „Buddenbrooks“ zugeschickt wurde, wofür er mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet wurde, betrat die Familie das Haus nie mehr. In der Folge beschlagnahmte Göring das Haus und benannte es um in „Jagdhaus Elchwald“. Verwundete Luftwaffen-Offiziere diente es später als Erholungsort, bevor die Sowjetunion es zur abrissreifen Kriegsruine erklärte. Ein litauischer Schriftsteller und sicher einige Zufälle sorgten dafür, dass es erhalten blieb und heute ein Kulturzentrum ist.

Irgendwo lockt uns eine Räucherfischbude und fordert zum Aufsuchen des heimischen Tischs auf zwecks Verkostung. Wegen Regen fällt leider die noch geplante Radtour zur Ostseeseite aus. Manchmal ist es eben so, wie es ist, nützt nix. 

Aber einen besonderen Lichtblick gibt es heute doch noch, eine Erscheinung nämlich. Neringa, im herausgeputzten Garten, blickte stolz und schön auf das Haff, als wir vorbei radelten. Und tatsächlich glätteten sich die Wogen. Na, wer sagt‘s denn …