Estland ~ Muhu ~ Saaremaa

03.09.2021 Freitag

Beim Womo-Reisen geht dem „Blick-zurück“ immer der „Blick-voraus“ voran, und er folgt auch auf dem Fuße. So freuen wir uns, dass Haapsalu uns eine vorbildliche Herberge gewährt hat, gleichzeitig aber auch, jetzt wieder zu einem neuen Ziel aufbrechen zu können. Selbstverständlich nehmen wir das Gebot, auf Enten zu achten, ernst, sehr ernst, wir tun quasi nix anderes, und verlassen nach einer baustellenbedingten Extrarunde durch engste Gassen dieses schöne Städtchen.

Reif für die Insel, peilen wir Virtsu an, Fähranleger. Ganze 80 km sind zurückzulegen, was auf sehr guter Straße mit wenig Verkehr schnell erledigt ist. Und schon wird der Fährhafen sichtbar. Ein dicker Pott liegt bereits im Becken. 

Mehrere Spuren regeln die Verschiffung. Am Schalter kaufen wir ein Ticket. Man kann nur eins für die Hinreise lösen, die Rückreise muss später extra gekauft werden. Es hat schon kräftig Seegang, aber ich vertraue darauf, dass, aufgrund meiner Dänemark-Erfahrungen, nordische Fähren liegen wie ein Brett. Unsere letzte Fährfahrt von Marokko nach Algeciras lief alles andere als glatt, meine Güte, um ein Haar Fische gefüttert, das Grauen. Aber es waren damals auch alles in allem fürchterliche Umstände. Hier wird nicht lange lamentiert, alles ist geregelt, fügt sich, ist im Griff, und wir auf der Fähre. 

Hunde bis 15 kg hätten mit an Deck gedurft, na ja, ein klein wenig mehr haben Bazou und Chianga schon auf den Rippen, daher bleiben sie im Womo. Die Überfahrt ist ohnehin nicht lange, nur 30 Minuten. An Deck weht ein starker Wind, der mir sofort die Brille von der Nase zerrt. Gott sei Dank bleibt sie am Boden liegen und ich erwische sie noch. Ansonsten passiert während der Überfahrt nichts, außer wunderschönen Blicken auf das Meer und einzelne Küstenstreifen. Und ehe wir uns umsehen, sind wir auch schon am anderen Ufer, das Eiland Muhu hat uns.

Von hier aus führt ein befahrbarer schmaler Damm zur Insel Saaremaa, die wir eigentlich umkreisen wollen. Aber zunächst werden wir über das Inselchen Muhu nicht einfach hinweg fegen, sondern eine Nacht hier verbringen. Daher ist Ziel für heute der Winzlingshafen im Dörfchen Koguva an der Westküste, auch wenn das Restaurant dort, das als sehr gut beschrieben wird, ab Ende August schon geschlossen hat, Saisonende. An vielen Steinmäuerchen vorbei erreichen wir den PP am Meer, er ist offen, wir laufen ein und stehen wiedermal toll. 

Der erste kleine Rundgang wird unternommen. Die Sonne scheint immer mal wieder kräftig trotz Wolken, der Wind ist erträglich, und die Ansichten und Einblicke ins Fischerei-Gewerk lehrreich. Außer uns läuft nur für einen kurzen Besuch ein Paar herum, ansonsten ist und bleibt es menschenleer. Alles dicht. 

Es ist noch früh am Nachmittag. Eine Runde Radfahren bietet sich an. Es soll hier ein Freilichtmuseum geben, und evtl. wird uns erlaubt, mit dem Rad und den Hunden in den Anhängern hindurch zu schieben, könnte ja sein. Also los. Um die erste Ecke herum sehen wir gerade noch so im Augenwinkel auf einer sehr leicht erhabenen Kuppe, die höchste Erhebung auf der Insel Muhu ist unter 30 m, eine Figur. Wir kratzen die Kurve, werfen uns in die Bergetappe, und stehen kurz darauf fast andächtig vor einer riesigen, sehr ausdrucksstarken Bronzefigur, ein schönes Gesicht schickt versonnene Blicke auf’s Meer hinaus, ein Rabe auf der Schulter, wenn auch keine Ahnung, finden wir Dich, Fremder, wirklich sehr imposant.

Ein Stückchen weiter weist auch schon ein Schild „Muuseum“ den Weg. Über eine Wiese radeln wir durch eine Öffnung in den Steinmauern auf eine junge Frau zu. Freundlich erklärt sie uns auf Englisch das Wesentliche, erzählt uns von ihrem einjährigen Deutschen Schäferhund. Sie gibt uns einen Plan mit der Bitte um Rückgabe, wir zahlen 6 € Eintritt und starten mit der Besichtigung der Gebäude des kleinen estnischen Dorfs, heute komplett unter Denkmalschutz. Eine noch existierende wirkliche Gemeinde in dem Sinne, wie wir annahmen, gibt es gar nicht, alles ist Freilichtmuseum. Einzelne Häuser werden zwar privat genutzt, gehören nicht zu den Gebäuden, die besichtigt werden können. 

Und es erklärt sich schnell, wer der Mann auf der Anhöhe war: der aus dem Dorf stammende Dichter und Schriftsteller Juhan Smuul. Sein Zuhause kann auch gleich besichtigt werden, seine Brille, sein Schreibzimmer, seine Utensilien, seine zahlreichen Werke liegen aus. Sehr beeindruckend.

Die gut erhaltenen Häuser und Hausstände vermitteln einen tollen Einblick ins dörfliche Leben von einst zwischen den dick bemoosten Mauern, wie die Familien lebten, wie es so war in Estland, als die ältesten Häuser des sogenannten „westestnischen Haufendorfs“ Anfang des 18. Jahrhunderts gebaut wurden. Und Picknick war schon immer angesagt, wie die alten Fotos zeigen.

Besonders schön und informativ ist die Präsentation der Kleidung im ehemaligen Schulhaus. Sehr kräftig sind die Farben der Textilien mit aufwändigen Stickereien und Verzierungen. Da haben die Frauen wirkliche Meisterwerke kreiert. Und das hat natürlich alles Beweg- und Hintergründe, wie man sehr anschaulich sehen und lesen kann. Da bekommt nämlich der Begriff „unter die Haube kommen“ Gestalt. 

Es macht Spaß, sich alles anzusehen. Meine Güte, ich war schon ewig nicht mehr in einem Freilichtmuseum und fühle mich im Moment in Kinderzeiten meiner Söhne zurück geworfen, wo alles abgegrast wurde. Schön schön war die Zeit, und lange lange ist sie her. Wir drehen noch eine Runde über alle möglichen Wald- und Wiesenwege, stoßen auf eine alte traditionelle Bockwindmühle und andere Altertümchen, und die Hunde können endlich mal raus aus ihren Kisten, in denen sie wirklich sehr geduldig ausharren, total zufrieden und ruhig sind. 

Wir sitzen später noch lange am Fischerhaus auf einer Bank, windgeschützt und sonnig warm. Sehr verträumt alles, still, einfach herrlich.

04.09.2021 Samstag

Früh am Morgen, noch unter der Bettdecke, fällt ein Regenschauer. Man hört irgendwie schon, dass nichts Ergiebiges runterkommen wird, auch weil viel Licht durch die Ritzen im Heki fällt. So ist es auch. Zwar ist es ziemlich frisch, aber blau. Heute trennen uns, obwohl wir eine Insel weiter hüpfen müssen, nur 40 km vom Tagesziel, einem SP auf einer Landzunge an der südlichen Küste von Saaremaa auf halber Strecke bis zur Inselhauptstadt Kuressaare. Nach den Fotos im Netz zu urteilen, ist es ein wirklich phantastischer Fleck. Von daher ist es mehr als nötig, dass uns gutes Wetter beschert wird. Denn heftiger Wind, der Regen vor sich her treibt, und dann auf einem schmalen Zipfel im Meer sitzen, ist nun mal nicht der Brüller. Wir werden sehen. Ab geht‘s, am ersten Reisebus auf dem Parkplatz des Museums vorbei. Unterwegs begegnet uns ein weiterer. Da hatten wir gestern Glück, wir waren ja alleine im schönen Freilichtmuseum. 

Schnell erreichen wir den Damm, der die beiden Inseln Muhu und Saaremaa verbindet. Und ebenso schnell sind wir darüber hinweg und auf Saaremaa gelandet. An einem wunderschön bemalten Buswartehäuschen lassen wir die Teilnehmer einer Ralley passieren. Erinnerungen an Marokko werden wach. Da hatten wir mal Ähnliches. Da waren unfassbar viele R4 unterwegs, eine Karawane quasi, auf ihrer jährlichen Ralley in die Wüste. Das war ein tolles Bild, diese kleinen knallbunten Vehikel im Gelbgold der Wüstenlandschaft tief unten im Süden von Marokko.

Irgendwo guckt die große Kuppel einer Kirche aus dem Wald heraus. Sie liegt nah an der Straße, und wir statten ihr einen Besuch ab. Leider ist die Tür verschlossen, möglicherweise ist das Innere auch schon baufällig. 

Ein paar weitere Kilometer später erreichen wir den Landzipfel mit dem SP. Man kann nicht so weit raus fahren, wie das die Fotos im Netz zeigen. Mittlerweile, so der Betreiber ein wenig betreten, stünde da ein Haus, seine Frau hätte schon versucht, die Bilder im Netz entfernen zu lassen, es sei aber nicht gelungen. Ja, es ist schade, denn dadurch ist der Platz erheblich reizloser geworden, ach, man wird doch immer verschnuppter. Dennoch ist es nicht übel: rechts Wasser, links Wasser, vorne Wasser. Ein estländischer Mitcamper steht noch hier und wir reihen uns ein.

Am Café, das, wie könnte es anders sein, geschlossen ist wegen Ende der Saison, gibt‘s WLan, so kann ich mich nach einem kurzen Rundgang ausgiebig der Kontaktpflege widmen, zuhause mit allen skypen und wo man sonst noch alles so hin daddelt im www, während Wim mit „schwerem Gerät“ loszieht, nachdem er mit ebenso schwerem Gerät nach Würmern gegraben hat. Das jedenfalls war schon mal erfolgreich. Ob später allerdings eine Bratpfanne nötig wird, werde ich morgen berichten. Zunächst mal „Petri Heil“. Und noch ehe ich das hier abgespeichert habe, erscheint er schon wieder im Womo, schwer bewaffnet mit Anglermesser, auf der Flucht vor einem Regenschauer. Irgendwo müssen wir doch noch ‚ne Büchse Erbsensuppe haben … irgendwo … 

Und während ich so rumkrame, hält doch der Himmel einen Oberknaller für uns bereit. 

Tagpflücken in Vollendung. 

05.09.2021 Sonntag

Die Bratpfanne steht heute morgen noch unberührt auf dem Herd. Wim hatte wohl Anglerglück, aber ein zu kleines, er ließ sie wieder frei. Nun nutzt er die Chance und haut sich 2 Eier in die Pfanne. Kraftfutter für einen Sonntag, der eigentlich gemächlich verbracht werden soll. Wir werden abreisen und das Hauptstädtchen besichtigen. Ein Streetfood-Event soll stattfinden, es gibt sogar eine Facebook-Seite dazu. Vielleicht ergibt sich endlich mal die Möglichkeit für uns, etwas Landestypisches zu probieren. Also Abfahrt bei herrlichem Wetter. 

40 km später rollen wir durch Kuressaare und erreichen am Wassergraben der mächtigen Bischofsburg den Parkplatz, auf dem wir auch übernachten wollen. 

Die Räder werden ausgeladen und die Burg zunächst umrundet, dann im Inneren besichtigt. Sie hat nicht die Ausmaße, wie ihr Gegenstück in Haapsalu, dennoch ein sehr imposantes Gemäuer, auch durch den Wassergraben drumherum und die beiden wunderschönen Häuser am Wassergraben.

Die Tour durch das Städtchen ist schnell zu Ende, es gibt nicht sehr viel zu sehen. Der Platz in der Dorfmitte ist nett, der Blumenschmuck toll. Aber von Street-Food-Event keine Spur. Die Lokale haben geöffnet, aber rein gar nichts deutet darauf hin, z.B. eine Beschilderung oder Deko, dass hier eventmäßig irgendetwas gebacken sein könnte. Und es ist Sonntag, also beste Event-Zeit. 

Etwas enttäuscht besorgen wir uns im Coop eine Pizza aus der heißen Theke, radeln zum Womo zurück und beschließen, 50 km weiterzufahren und die Pizza auf einer neuen Landzunge der zerklüfteten Küstenlandschaft auf Saaremaa zu verschlingen. Es wird unterwegs schon sehr urwüchsig und rauh. Kaum bemerkenswerte Ansiedlungen liegen an der Strecke, eigentlich alle wenig schön, ungewohnt aus Stein, die Lieblichkeit der Holzhäuschen ist verflogen. 

Hier sagen sich Fuchs und Hase „gute Nacht“. Der Hase ist noch abgängig, aber der Fuchs hockt im Grasland am Straßenrand, er fühlt sich auch durch Anhalten und Fotografieren nicht gestört bei seiner Mäusejagd und guckt immer wieder schelmisch und süß zu uns rüber.

Unser Ziel, der Leuchtturm Sõrve tuletorn am südlichsten Zipfel Estlands, ist nicht zu verfehlen. Davor gibt es ein leider schon geschlossenes Lokal und einen großen Parkplatz, wir pflanzen uns an den Rand und unternehmen bei tollem Wetter einen kleinen Spaziergang und winken zum vor kurzem besuchten Kap Kolka nach Lettland rüber. 

Die Bucht ist voller Wasservögel, viele Schwäne leuchten mit ihrem reinen Weiß auf dem tiefblauen Wasser. Große Vogelschwärme steigen immer wieder auf. Man spürt, hier ist behüteter Lebensraum, hier könnte ich meine Teleobjektiv-Technik mal vertiefend bearbeiten, da hapert es nämlich gewaltig, was das fotografisch verwacklungsfreie Festhalten zum Thema „Tier in Bewegung“ anbelangt, und das nervt und ärgert mich extrem. Man hat ja sonst nix zum Aufregen. 

Ein deutsches Paar spricht uns auf die Hunde an. Sie haben im Bekanntenkreis auch Rhodesian Ridgeback. So kommt man von Hölzchen auf Stöckchen. Sie sind mit Mietwagen unterwegs im Baltikum mit vorgeplanten B+B-Stopps. Alles in allem schienen sie nicht so begeistert, und wir bemerkten quasi, wie aus einem Munde, dass die für uns sehr unschöne „Zurückhaltung“ der Bevölkerung nicht nur für uns belastend ist, sondern für die beiden ebenfalls. Sie nimmt doch recht viel von der Reisefreude. 

Den Abend verbringen wir mit dem Polizeiruf und einem fantastischen Sonnenuntergang, der es auf Platz 1 unserer Best-off-Sundowner schaffen könnte.

06.09.2021 Montag

Ungestört verläuft die Nacht. Ein weiteres Womo aus München lief abends noch ein und ein lettischer PKW spannte spät seine Zeltbox auf dem Dach auf. Ehe unsere Luken richtig offen sind, rollen sie schon vom Platz. Ein Greifvogel, womöglich ein Seeadler, kreist herum, er hält uns auf, ebenfalls die immer wieder auffliegenden Kraniche oder Reiher in der Bucht. Da werde ich mich mal im Fach „Vogelkunde“ fortbilden müssen. Evtl. gelingen die Fotos besser, wenn man weiß, was man fotografiert. 

Wir sagen dann auch dem strammen Leuchtturm Tschüss und setzen unsere Inselumrundung fort mit einem Tagesziel in 60 km Entfernung. Große landwirtschaftlich genutzte Flächen durchzieht das schmale Sträßchen im Wechsel mit Wald. Einzelne Ansiedlungen liegen verstreut, sehr viele recht nichtssagend. Ein paar wenige leuchten so, wie wir das bisher von Estland gewohnt sind.

Meist geht es an der Küste entlang mit freiem Blick auf die Ostsee. Und plötzlich, da ist sie, die Sehenswürdigkeit in Estland, die uns unterdessen total entfallen war. Links am Ufer gucken sie heraus, klein und groß, niedrig und höher, jede Menge, eine ganze Meute, nein, keine Elche, aber ähnlich: Steinmännchen. Hier haben Hochstapler sich ausgetobt. Die sogenannten Steinmännchen hocken hier und trotzen Sturm und Wind. Einen kurzen Besuch statten wir ihnen ab, sprechen Mut zu, beinhart auszuharren, und Bazou gibt vielfach seinen Segen dazu. 

Ein bisher nicht gekanntes Verkehrsschild macht aufmerksam. Wim ist der Meinung, gleich ende der auf der Fahrspur aufgemalte Mittelstreifen, der ohnehin schon länger nicht mehr drauf ist. Ehe ich widersprechen kann, haben wir schon den Schotter. Schotter Schotter ohne Ende, man könnte sich ja drüber freuen. Tun wir auch. Jedenfalls haben wir Zeit, dann döseln wir eben mit 10 km/h herum. Den Wasservögeln links und den Rindviechern rechts wird‘s nur recht sein. Und wir haben Zeit, die unzähligen zerzausten und vom Wind gebeutelten Wacholderbüsche zwischen kleinen und großen Findlingen in der moorigen Landschaft zu bestaunen.

Die Übernachtung im angefahrenen Landgut Loona scheitert, das Restaurant ist geschlossen, auf der RMK-Wiese dürfen nur Zelte stehen, der Parkplatz am Lokal ist weniger schön. Also weiter. 

Ein nächster Platz, der gut klingt, liegt 20 km weiter. Klingt wenig, ist es auch, aber dauert. Scheinbar haben wir den Inselteil erwischt, für den die EU noch keinen Asphalt locker gemacht hat. Gut, die Strecken sind meist plan und gut zu fahren, wenn man‘s nicht eilig hat, aber eben manchmal auch arg wellig und löchrig. Daher muss Wim sehr konzentriert fahren, man kann ja nie wissen. So schleichen wir über Stock und Stein und durch Busch- und Waldland mit großer Hoffnung, endlich den Motor ausschalten zu können. 

Irgendwann - bei solchen Strecken hat man ja schnell mal das Gefühl, sie enden nie - sehen wir das Holzschild: RMK links. Ach du Schande. Holpriges sehr welliges, abschüssiges Gelände, halb Wiese, halb Schotter und Steine, tiefe Löcher, aber mit Grill, und ein roter Bus aus Lettland steht auf der einzigen auf Anhieb passabel erscheinenden Möglichkeit, das Concördchen aufzubocken. Was will der denn hier? Aber der Bus sieht nach einem kleinen Reisebus aus. Tatsächlich, er wartet hier auf „Tourist“, wie der Fahrer mir unwillig signalisiert, dauere noch 1 bis 2 Stunden, wechseln könne er nicht, er müsse Pause machen. Und das in der Wildnis. 

Wim und ich begehen und sichten das Gelände nochmal ausgiebig und beschließen, auf die nächste untere Etage im natürlich terrassierten Areal zu schaukeln. Gesagt, getan. Wir stehn. Außer einem Mini-Rundgang braucht uns dieser Tag nun nichts weiter anzubieten. Und er richtet sich danach. Die Sonne verschwindet nämlich ohne zu fackeln unspektakulär hinter den Wolken.

07.09.2021 Dienstag

Weniger erholsam war die Nacht. Irgendwie beschäftigt einen zumindest unbewusst, wenn man nicht so ganz „im grünen Bereich“ steht. Und wir hängen hinten nun mal ziemlich im Loch, und das ist voller loser Steine. Hoffen wir, der Hinterradantrieb treibt genug an. Das kennt sicher jeder, solche Sorgen, und im Nachhinein fragt man sich, warum man überhaupt einen Gedanken daran verschwendet hat - wenn‘s denn mal gut ausgeht. Und natürlich geht es gut aus. Wir müssen glücklicherweise nicht die Erfahrungen machen, wie vormals mit unserem frontangetriebenen Niesmann, da hatten wir ja reichlich Probleme mit entsprechenden Noteinsätzen. Vor unserer Abfahrt banne ich aber noch die wunderschöne Natur im Morgenlicht auf meiner Kamera. Es ist sehr lau heute morgen, Wetter scheint entgegen Wetterbericht sehr gut zu werden. 

Wim verstaut irgendwo die von mir geernteten Fruchtstände der Pflanzen, die wie Kohl aussehen und den Steinstrand säumen. Sie sehen toll aus, machen sich zuhause in der Herbstdeko sicher ganz gut. Dann zündet Wim und schmeißt die Motoren an. Wind Nordost, Startbahn 03. Rückwärts mit kräftigem Durchzug hoppelt das Concördchen aus dem Wellental mit Meerblick ohne jedes Zaudern. Wie ein Pfeil zieht es vorbei. Und es dröhnt in meinen Ohren. Ach, war doch klar, dass das reibungslos gelingen wird. Mit einem kleinen Hang zur Überheblichkeit fällt mir plötzlich der Werbespruch von vor 100 Jahren ein: Magirus Deutz, die deutschen Bullen. Concördchen macht zwar nur mit Iveco gemeinsame Sache, aber ein kleines Öchslein steckt schon drin. Wankend und schwankend wie ein Dampfer bei hohem Seegang schippert Wim aus dem Gelände auf den erheblich höher gelegenen Schotterweg. Geritzt. Glücklich. 

Ganze 10 km liegen vor uns. Daher können wir sehr gelassen die Schotterstrecke am Meer entlang zurücklegen. Sehr viel Wasser steht in den baumlosen Flächen, Binsen und Schilfiges biegen sich im Wind, abgestorbenes Geäst dazwischen. Hochmoore sind es womöglich, was ich aber mal nachschlagen muss, ehe die Botaniker und Geologen unter uns aufjaulen. Jedenfalls hat der den vollen Schlamassel, der hier vermeintlich gute ebene Flächen auf seinem Freisteherritt befahren will. Da geht‘s aber abwärts, oder besser: einwärts. Tiefe Spurrillen an manch hervorragender Stelle geben uns recht. Hier ist Moorbaden mit Schlammpackungen vorprogrammiert, und man wird einkalkulieren müssen, ein paar Tage länger bleiben zu müssen. 

Baden wollen wir heute auch noch. Daher sind wir froh, nach ein paar phantastisch schön in der Wildnis gelegenen neuen Anwesen den Asphalt wieder zu erreichen und den Rest der heutigen Kurzstrecke abzufahren. Vorbei an einem wirklich sehenswerten Staudenbeet an der Straße, das einem echt die Sprache verschlägt, lotst uns Rüdiger schnell wieder vom Asphalt runter auf einen „Feldweg“, wie er „unbefestigte Straßen“ gerne mal nennt. Aber der Weg macht einen guten Eindruck, ist auch gut befahrbar, eine erste Untertunnelung ist breit und hoch genug, und wir erreichen unbeschadet einen großen Wanderparkplatz mit üblichen Sitzgruppen, Grill, Holzschuppen mit gespaltenem Holz, Plumpsklo. Wunderbar.

Dieses Gelände und weiträumig rundum wurde in Zeiten der sowjetrussischen Herrschaft als Kasernen- und Truppenübungsfläche der Roten Armee genutzt. Mittlerweile holt sich die Natur alles wieder, überwuchert Zufahrten, Gebäude, Bunker, Hangare, Schächte aller Art. Spuren werden dennoch bleiben, selbst wenn Augen sie nicht mehr entdecken können. 

Wir sind gespannt, worauf wir noch so stoßen auf unserer Radtour. Man kann sich dies nämlich sehr gut erradeln, muss natürlich ein geländegängigeres Rad fahren. Drei Routen werden angeboten: 2 km / 5 km / 10 km. Die Anhänger werden vorsorglich angespannt, Chianga und Bazou laufen aber frei, wie geil ! Man kann es immer nur wiederholen. Die Hundehalter unter uns wissen, was gemeint ist. Womo-Tür auf, leinenlos los, der absolute Luxus. 

Also: auf die Plätze, fertig, los. 

Im lichten Wald verschwinden wir zwischen märchenhaften Moosgebilden und Beerensträuchern mit hin und wieder aufblitzendem Blau der Waldbeeren, voller Pilze und Zapfen und Krabbeltiere, kleinen Wiesenstücken und unzähligen Blütchen am Wegesrand, die zum Herbsteinbruch nochmal alles geben.

Die Wege durch die Wälder sind wirklich toll, gut zu befahren, auch wenn es mal steiler wird auf einen Mägi hinauf und armdicke Wurzeln einem quer kommen. Hier vergnügen sich im Winter ganz sicher Scharen von Skilangläufern. Und jetzt wir und unsere freilaufenden Hunde, diese Lebensfreude, immer und immer wieder Garant für pures Glücksgefühl bei Wim und mir. 

Seltsame Behälter aus Metall, rot umrandet, mit Ketten fallen uns auf. Mehr dazu aber nicht, trotz angestrengtem Nachdenken. Es kann unmöglich irgendetwas mit Naturschutz oder Wald- und Wildpflege zu tun haben. Völlig unerklärlich, welchen Sinn und Zweck sie haben. Und dann tauchen sie recht oft auf. Ein langes Seil ist daran befestigt. Es wird immer eigenartiger. Irgendwelche Stationen scheinen es zu sein, Bezeichnungen und Nummerierungen stehen manchmal auf Schildern. Dazu gehören vermutlich diese komischen, mit Kunstrasen und weißer Linie überzogenen großen rechteckigen Podeste, die irgendwo auf dem Waldboden liegen. Immer mal wieder. Dann trägt einer dieser „Körbe“ die Aufschrift: Discgolf. Aha, wohl eine Art Golf, etwas zum Bespielen, und wegen dem „Disc“ vermutlich mit einer Scheibe. Sehr sehr seltsam. 

Die Denkleistung schafft uns. Ein Bad wollten wir doch heute nehmen. Das wäre jetzt genau das Richtige, entspannen, gelassen Zeit vertrödeln, Wellness ohne Gedöns. Also ran. Hier in dieser Oase kann man es kostenlos, anderswo muss man sogar zahlen, hörten wir. Und es gelingt, sogar gut, auch ohne Coach und Bademantel: das Waldbaden. Und die Hunde lieben es auch, ist ja grundlegend wichtig. 

Der spätere Nachmittag bringt Erkenntnis: etliche Autos kommen an, junge Leute steigen aus, überwiegend in Sportklamotten, schnappen sich ihre dicken Rucksäcke, aus denen bunte Scheiben gucken. Damit wäre klar, der Golfball ist eine „Disc“. Wie es gespielt wird, haben wir noch nicht ergründet. 

Wim will sich auf die Lauer legen, ist dann aber mit dem Grillfeuer und dem Dutch Oven beschäftigt, der mit Paprika, Tomaten und Hackbällchen gefüllt in den gefeuerten Grill geschoben wird. Dazu gibt‘s Nudeln und die Planung, auch noch den morgigen Tag hier zu verbringen. Warten wir‘s ab, was der Wettergott dazu meint. Heute war er schon mal sehr gnädig gesonnen. 

08.09.2021 Mittwoch

Die Gnade ist ihm, dem Wettergott, über Nacht abhanden gekommen. Leider ist der Himmel grau, keine Änderung in Sicht. Wir warten bis mittags ab, aber entscheiden uns gegen eine weitere Radtour, es ist uns einfach zu ungemütlich heute. Stattdessen packen wir auf und drehen eine Runde um den nahe gelegenen See Karu järv, den wir eigentlich mit Rad ansteuern wollten. Einige Badestellen sind gut erreichbar. Man könnte also problemlos einen Badetag ab unserem Übernachtungsplatz einlegen. Auch den kurz danach liegenden CP schauen wir uns an, er hat bereits alle Luken dicht, alles andere ist absolut uninteressant für uns, da uns schon 2 Hundeverbotsschilder anspringen.

Also ziehen wir weiter. Im Dörfchen Mustjala finden wir einen Coop und kaufen ein paar Kleinigkeiten. In den kleinen Läden gibt es eigentlich alles, so unsere Erfahrung. Nur muss man erstmal ein Dorf finden und nicht nur ein paar wenige hingestreute Ansiedlungen. Nun peilen wir hoch im Norden der Insel auf der Landspitze Panga Pank - klingt wie ein balinesisches Fischgericht - die Steilküste an und erreichen einen riesigen Parkplatz. Auf einer großen Wiesenfläche stehen zum Meer hin reichlich Hütten und Sitzgelegenheiten. Auf schmalem Pfad kann man auf den gut 20 m hohen Klippen entlang wandern. Die Aussicht ist schön, das Ganze in Blau wäre natürlich um einiges schöner. So wird es nur ein kurzer Gang, und wir landen wieder im Womo.

Hier auf dem PP könnte man übernachten, aber keine Option für uns. Etwas unterhalb war eine Abzweigung ins Gebüsch direkt am Ufer der Bucht. Dort werden wir versuchen, ob das Concördchen es schaffen kann, sich hinein zu bugsieren. Ja, gelingt. Wir nehmen unauffällig unseren Seevogelobservierungsposten ein, kochen Kaffee und essen Coop-Teilchen dazu. 

Mehr Meer tut sich heute nicht auf. Ein klein wenig erheitert sich der Himmel, der Wind lässt nach, man könnte es schlechter antreffen. Hauptsache erstmal, Kormorane hängen auf wellenumspülten Findlingen, Schwäne starten und landen, Blümchen blühen, Herbstzeit winkt, und ich habe Motive und Motivation. 

09.09.2021 Donnerstag

Die Sonne lacht, die Luft ist warm, das Meer ist blau.

Heute wird sich nichts bewegen … außer die Wellen, und die auch nur ganz sacht. Wir bleiben und genießen das Wetter und unser herrliches Eckchen hier im Gebüsch. 

Außerdem schreit das Womo-Innere nach seiner mit Lappen und Besen bewaffneten Herrin. Und Wim dreht eine Runde mit den Hunden am Strand entlang. Später will ich in die See stechen, zumindest mal kurz abtauchen. Das bin ich dieser Lage und dem Sonnenschein schuldig. Dieses Versprechen kann ich nicht einhalten. Kurz danach kommt Wim nämlich zurück, Chianga ist von einer Schlange gebissen worden. Sie ist ziemlich verschreckt, und ihre Lefze zeigt schon eine leichte Schwellung und deutlich die beiden Stellen, an denen dieses Mistviech zugebissen hat. Ach Du lieber Gott, lass das nicht wahr sein! Wim hat die Schlange nach dem Biss gesehen, von daher gibt es keinen Zweifel, was der Anlass für Chiangas plötzliches Aufjaulen und Wegspringen war. Was nun? Ja ja, das ist der Alptraum. Im Netz kurz nach „Schlangen Estland“ gegoogelt. Die, die es war, ist nicht zu finden. Hätte auch kaum etwas genützt. Sofort „Tierarzt Saaremaa“ gegoogelt. Und in Kuressaare gibt es einen. Anruf, keine Frage, wir können sofort kommen. Da fliegen aber die Klamotten ins Womo, das kann ich einem flüstern. 40 km bis dahin. Hoffentlich keine Pisten! Chianga jammert, die Schnauze schwillt immer mehr. Nicht mal ein Leckerchen nimmt sie. Blitzartig sind wir abfahrbereit. Wim rast los, glücklicherweise sind wir sofort auf einer Hauptverbindung von der Nord- zur Südküste. Aber es ist irre, wie sich dann mit allen nur denkbaren Schreckensszenarien im Kopf die paar Kilometer ziehen. Chianga kauert wie ein Häufchen Elend in der Ecke. Ich vertraue so darauf, dass sie als kräftiges starkes Mädchen das irgendwie wegsteckt. Nicht auszumalen … aber im Kopf wird gemalt, da gestalten sich die abstrusesten „Kunstwerke“. Irgendwann kommen wir an, brauchen nicht suchen, Rüdiger hat ein großes Lob verdient, auf direktem Weg auf freiem Parkplatz direkt vor der Praxistür angekommen. Raus, rein. Die Tierärztin gibt ziemlich direkt Entwarnung. Ein Biss kleinerer Schlangen versetzt wohl größere Hunde nicht in einen lebensbedrohlichen Zustand. Ihre Atmung ist normal, Blutdruck auch. Ja, es schwillt und schwillt, Lefzen, Hals und Nacken. Das würde auch noch zunehmen. Sie bekommt eine Spritze mit Schmerzmittel, da es wohl sehr schmerzhaft sei. Danach würde sie sehr schläfrig. Wir sollen auf sie achten und sie beobachten und jederzeit wiederkommen, falls sich etwas ändert. Erleichtert, ein wenig zumindest, ziehen wir wieder ab. 

Wir fahren wieder auf den Parkplatz an der Burganlage, auf dem wir vor ein paar Tagen schon mal zur Besichtigung des Städtchens standen. Ein deutsches Womo parkt auch hier. Keiner zuhause. Wir hängen im Womo, an diesem Tag, den ich gerne mitsamt Meeresblau und Meerblick verschenkt hätte.

Chianga döst zunächst im Sitzen still vor sich hin, sie mag sich nicht hinlegen. Als ich ihr ein Kissen hinlege, lässt sie sich nieder. Ihr Deckchen unter den total geschwollenen Fang und das Kinn, sie nimmt es hin, und der Kopf sackt irgendwann darauf und sie schläft. Ich sitze nur da und beobachte ihre Atmung. Aber alles geht ruhig. Gegen 6 meldet sie sich, wacht mit hellem Blick auf, jöhmelt etwas herum, wirkt orientiert wie immer und, welch ein Glück, hat Hunger! Es dauert etwas, mit Geduld und Zureden nimmt sie nach und nach ängstlich die eingeweichten Bröckchen für Bröckchen und schluckt. Na, da sind die Lebensgeister wieder. Pippi klappt auch. So hoffen wir heute Abend inständig, dass es wieder aufwärts geht. Die Schwellung geht auch leicht zurück, ist vor allem nicht noch stärker geworden.

10.09.2021 Freitag

Ist es grundlegend von der eigenen Erwartung abhängig, ob Tage als gelungen empfunden werden oder nicht? Ich weiß es nicht. Nachdem ich einige Stunden in der Nacht sitzend im Salon mit irrem Herzrasen verbracht und mit schnellem Trinken von Mineralwasser versucht habe, den Puls wieder auf eine niedrigere Taktung runterzufahren, war eigentlich klar, dass der heutige Tag hart werden würde. Chiangas Schicksal nimmt mich sehr mit, auch wenn es nicht so scheint und ich besonnen reagiere, aber das Unbewusste, ja ja, das hat nächtens gute Zeit, sich in einem breit zu machen und den Puls vor sich her zu treiben. 

Die Nacht auf dem Parkplatz war ansonsten unproblematisch, unser Patient schnorchelte ruhig in der Besucherritze zwischen uns. 

Man kann hier auf dem PP sehr gut in Verbindung mit einem Stadtbesuch nächtigen. Wir beschließen aber, wieder ans Meer zu fahren, allerdings in der Nähe zu bleiben, falls es Chianga schlecht gehen sollte. Die Schwellung ist nicht schlimmer geworden, sogar etwas milder. Sie frisst und hat gute Laune. Es wird wohl bergauf gehn.

Ich suche Stellen, an denen wir in der Nähe V+E erledigen können. Sprit muss auch her, der Gastank befüllt werden. Während ich auch fündig werde, wird Wim dies nicht. Der Schlüssel vom Gastank ist unauffindbar. Mehr sage ich jetzt nicht dazu. Wir sind alt genug, zu wissen, wie so etwas weiter geht. Glücklicherweise gibt es um ein paar Ecken eine Stelle, die Gasflaschen füllt. Und ein Mitarbeiter ist auch vor Ort, erledigt es sehr freundlich. Frischwasser und Sprit tanken geht an der nächsten Tankstelle, Grauwasser entsorgen ebenfalls, alles kostenlos und komfortabel. 

Einen kleinen Senfhandel, den Deutsche hier betreiben, besuchen wir. Anschließend schauen wir, ob ein Lokal im nächsten Ort geöffnet hat.

Nachdem das klar ist, besorgen wir in einer im Reiseführer benannten Bäckerei, die eher ein Tante Emma Laden ist, zwei Brote und kommen an einer Windmühlensammlung vorbei.

Nun geht‘s zurück zum Lokal zum Speisen. Endlich mal wieder. Aber so schön es auch auf den Teller gebracht wird, so nötig müssen Kochkenntnisse vertieft werden. Es geht so, gerade noch, mehr nicht, woran allerdings die Kellnerin mit ihrer großen Freundlichkeit den größten Anteil hat. Frank Rosin fällt mir ein. Er würde hier verzweifeln, wie man in einem solch tollen authentischen Gemäuer solch untypische „Kreationen“ in ziemlich einfallsloser Einrichtung anbieten kann und eben nicht bei heimischer Küche bleibt und diese zeitgemäß aufgepeppt serviert. Na ja .. Tomaten-Mozzarella kann einfach nicht die Lösung sein. 

Da es noch früh am Abend ist, wollen wir nicht auf diesem Restaurantparkplatz stehen bleiben und fahren zu einer Kirche, die durch ganz besondere Steinmetzarbeiten sehenswert sein soll. Portal verschlossen, alles war nur bis Ende August offen. Aber das Abendlicht verzaubert an diesem Ort für einen Moment. 

Ein Platz am Meer wird angesteuert. Rüdiger wählt die Route über Schotter, wir damit auch. Und landen schließlich auf einer auch für größere Womos angeblich problemloser Schotterpiste - komisch, dass bei solchen Angaben immer die Höhe außer Acht gelassen wird - in einem winzigen Hafen direkt an der Ostsee. 

Schluss - Ende für heute.

Warum schreibe ich das alles ? 

Ich will keinen langweilen. 

Aber: Auch solche Tage kommen eben unweigerlich auf längeren Reisen. 

Reisen allein ist kein Allheilmittel. Sorgen und Nöten ist es wurscht, ob man auf Reisen ist oder zuhause. 

Also klopfen wir den sehr teuren und sehr öden Freitag, den 10.09., flott in die Tonne. 

Bis morgen … 

11.09.2021 Samstag 

Sehr früh morgens hört man Motorengeräusche und Rangieren. Ohweia, wir stehn recht nah an der Stelle, an der Boote ins Wasser gelassen werden. Aber es klopft niemand. Scheint alles zu passen, und wenig später knattert ein Motorbötchen davon. Beim Aufwachen erwartet uns Suppe, Nebelsuppe. Die See ist eingehüllt, alles milchig um uns herum. Bald darauf läuft das Bötchen wieder ein. Zwei Männer, Schwiegerpapa mit Schwiegersohn, wie wir später im lustigen Plausch erfahren, hatten Anglerglück, zwei prächtige Hechte haben sie an Bord. Die werden später im Sommerhaus geräuchert. Der junge Mann berichtet, er habe auch schon mehrere Touren mit Womo unternommen, auch schon mehrere Wochen durch Amerika gereist mit seiner Frau und seinen vier Kindern. Aber seine Heimat liebe er sehr, sie wohnen in Tallinn, aber in den Sommermonaten wäre man sehr häufig hier auf der Insel im Sommerhaus. Wir packen auch unsere sieben Sachen, ohne Hechte an Bord, und schaukeln über den schmalen Weg wieder zur Hauptstrecke. Es ist wirklich alles ein klein wenig verwunschen, alles gehüllt in dickes dichtes Moos, hinter den Steinmauern versteckte Häuschen, zum Teil neu oder noch in der Renovierung. Aber auch viele stehen dort, die dem Verfall und der Überwucherung ausgeliefert sind. Allerdings kann man auch irren, denn oftmals sehen wir, dass auch die kleinsten zugewachsenen Hutzelhäuschen bewohnt sind, wenn auch nur im Sommer.

Wir folgen der Hauptstraße nur für wenige Kilometer, biegen dann wieder links zur Küste ab. Zu einem Burgrest wollen wir, der auch schnell erreicht ist. Unterdessen hat die Sonne den Nebel vertrieben, es ist sehr warm, schon ein wenig schwül, die Sonne sticht richtig. Und um uns herum steht alles still, so glaubt man. An manchen Stellen hier in Estland ist es derart still, da plätschert nicht mal etwas. Eine wunderbare Aussicht hat man hier auf die stille See, die wie ein Tuch zwischen Schilfgürteln liegt. Chianga geht es deutlich besser. Sie springt sogar mit einem Satz auf einen hohen Findling, als wolle sie uns zeigen, dass es aufwärts geht. Allerdings hängt die gestern noch volle Schwellung heute wie ein ausgeleiertes Gesäuge unter ihrem Hals. Aber das wird sich sicher auch wieder zurückbilden.

Nun steht Burgbesichtigung auf dem Programm. Zur Geschichte der Burg werde ich zuhause mal etwas nachlesen und nachtragen. Denn der Bau ist wirklich sehenswert und eindrucksvoll. Wenn auch vom oberen Bereich nur noch Ruinen bestehen, sind die Gewölbe der unteren Etage sehr gut erhalten bzw. instand gesetzt. Sehr nachdrücklich kann man einen Eindruck vom Leben in diesem Gemäuer gewinnen, von Raum zu Raum gehen und echt staunen. 

Unser nächstes Ziel in wiederum nur wenigen Kilometern ist der Hafen in Orissaare in der Hoffnung, irgendwo ein Plätzchen zu finden. Es soll unsere letzte Station auf Saaremaa sein. Vorbei an sicher ehemals prächtigen Bauten, die immer noch große Strahlkraft haben, fahren wir etwas abseits vom Zentrum Richtung „Sadam“, dem Hafen. Eine bunte Mischung erwartet uns dort. Alles sieht irgendwie harmonisch aus, trotz bunter Objekte, einfallsreicher Bemalungen, solche Orte lieben wir. Und während wir so rumstehen mit laufendem Motor, winkt uns auch schon ein jüngerer Mann herein, ja, trotz Einfahrtsverbotsschild sollen wir reinfahren, er zeigt auf ein Stück Wiese, wo wir beliebig parken können, weist uns in V+E ein, lecker kochen würden sie im Restaurant auch, alles easy, 15 €. Wir schnappen glücklich zu. 

Auf dem ersten kleinen Rundgang geht‘s zu den seltsamen Gestalten auf einer kleinen Landzunge im Schilf. Komische Figuren, gespenstisch, bedrückend, vor allem vor der Silhouette, denn auf dem Wasser wabern immer noch Nebelschwaden und ziehen am Ufer auf und nieder. Die riesigen Skulpturen sind aus festem Netz geformt, wirken sehr stark auf einen, gleichzeitig geschunden und irgendwie „am Boden“, zerstört und zermürbt. Jedenfalls verfehlen sie keine Spur dieser Wirkung auf Bazou, der hat richtig „Schiss“ und nähert sich äußerst respektvoll, jederzeit bereit, die Flucht zu ergreifen.

Natürlich werden danach die Räder klar gemacht, ich freue mich sehr darauf. Kleinstädtchen durchforsten ist doch immer wieder herrlich. Und es entpuppt sich wiedermal als Schnuckelhausen. Es ist wirklich erwähnenswert, wie ideenreich und mit welch einfachen Mitteln die Bewohner hier sehr wirkungs- und liebevoll rund um ihre Häuser dekorieren. Und welchen Wert sie auf gepflegte Gartenanlagen legen, mit extrem viel Arbeit ist das verbunden, da legt man die Ohren an voller Hochachtung. Ebenso was die sorgfältigst gestapelten Holzvorräte anbelangt. Wir selber schlagen im Wald Brennholz und spalten und stapeln, aber natürlich nicht diese Massen. Es sind schon wärmende Anblicke, man weiß ja, dass Kaminholz mehrfach wärmt: beim Schlagen, beim Heimschleppen, beim Spalten, beim Aufstapeln und letztlich beim Verbrennen. Und besonders herzerwärmend ist die buntbestrumpfte Kinderschar anzusehen, die sich Äpfel schmecken lässt, wie Bilderbuch und Bullerbü. 

Farbenfrohes findet sich im kleinen Städtchen an allen Ecken und Enden. Das zeigt jetzt auch die Umrundung des prächtigen Schlosses mit dem Rad, das wir kurz zuvor schon aus dem Womo bestaunen konnten. Allerdings sind noch andere, für unsere heimischen Regionen gewagte Fassadenmalereien zu entdecken. Ob sie nun ein privates Häuschen schmücken oder ein Elektrizitätswerk, allesamt herrlich, wie auch die tolle Chorbühne, umrahmt von alten Bäumen. Gerne hätten wir hier mal einem Konzert gelauscht, aber Corona hemmt immer noch Vieles. 

Auf dem Rückweg schauen wir uns im kleinen Hafen die diversen Farbkleckse an. Alles wirkt stimmig und passend, macht heiter, passend zum mittlerweile hochsommerlich warmen Wetter.

Den Nachmittag verbringen wir bei Kaffee, Teilchen und einem Bad im Meer, ja ja, der Hochsommer ist zurück, und da lassen wir uns nicht lumpen. Und da Baden bekanntlich sehr zehrt, verspeisen wir im Lokal ein leckeres Steak und hinterher Apfelcrumble und führen mit den echt freundlichen und aufgeschlossenen jungen Menschen rundum schöne Gespräche. Sie sind alle sehr erleichtert, einerseits, denn dies ist der letzte Abend, dann ist Saisonende und hier wird alles geschlossen. Andererseits auch wieder leicht bedröppelt, weil man sich bis nächstes Jahr voneinander verabschieden muss. Da haben wir Glück, noch den letzten Abend erwischt zu haben. Ein wunderbarer Abschluss unserer Umrundung der Insel Saaremaa.