07.08.2021 Samstag
Die Entzauberung der Nehrung schreitet voran. Die vergangene Nacht kippte reichlich Wasser vom Himmel. Jede Menge PKW, mit denen mit Kind und Kegel gecampt wird und in denen die Besatzung im Kofferraum schläft, stehen um uns herum. Irgendwie geht es da aber noch weniger feucht zu als in den unzähligen Kleinstzelten der Jugendlichen und Radwanderer. Nein, nein, so naturnah wäre bei uns nix mehr möglich. Da müssten ja dann schon vor dem Frühstück eine Voltaren eingeworfen und ein Grog aufgetischt werden. Tatsächlich haben wir gestern Abend die Heizung gefeuert und ein Mal alles gut durchgewärmt. Die Wetterprognose für heute sieht schlecht aus. Wir reisen daher ab, ohne die Ostsee wirklich gesehen zu haben. Das ist schade, aber manchmal geht es eben nicht auf. Natürlich, das mit passender Kleidung und schlechtem Wetter kennen wir, aber hin und wieder hat man auch darauf einfach keinen Bock. So nehmen wir die einzige Straße der Nehrung Richtung Hafen.
Teilweise ist die Fahrbahn auch auf der heute befahrenen Gegenspur extrem miserabel und noch mit besonderen Schikanen, da über den tiefen Schlaglöchern riesige Pfützen bis beinah Straßenmitte stehen und man die Fallen nur, wenn überhaupt, erahnen kann. Zudem hängen die regenschweren Äste weit in die Fahrbahn. Eine schweißtreibende Fahrt mit reichlich Rumgehüpfe bei sehr viel Gegenverkehr. Ein paar Blicke aufs Haff sind möglich, Fotos, die der Kategorie „Stillleben in reduzierten Grautönen“ zuzuordnen sind.
Froh, den Hafen zu erreichen, können wir auch flott verschifft werden, die Fähre steht schon parat und spuckt uns in Klaipeda wieder raus.
Ziel ist etwas Helles, Erbauliches … ein Parkplatz an einem Schloss im Städtchen Plungė in 60 km kommt gerade richtig. Er liegt auf halber Strecke ins Landesinnere zu unserem nächsten Ziel, dem Berg der Kreuze, aber der muss dann noch etwas warten. Zunächst einmal kommen Veränderungen der Aussichten auf uns zu.
Aus heiterem Himmel, der aber grau ist, ändert sich schlagartig die Bebauung. Man denkt, man sei irgendwo anders hingebeamt worden. Wo ist der Charme hin, die Lieblichkeit, die Ursprünglichkeit? Wer hat die Farben geklaut? Warum stattdessen abgeranzte Bauwerke, Lost Places en masse, Betongrau und Ödnis? Kaum fassbar. Ich werde mal nachlesen müssen, ob das noch litauische Wurzeln hat oder doch russische. Ggf. müsste man die Errichtung neuer Bürgersteige in Nida abblasen und stattdessen hier zu Hammer und Schippe greifen, statt zu Hammer und Sichel. Die Not wäre groß.
Ziemlich belämmert gurken wir suchend, da Rüdiger wieder rumspinnt, Aussetzer und Wissenslücken hat, über eine gute Straße und erreichen irgendwie das Objekt der Begierde, den Parkplatz mit Schloss vor Augen. Aber, wie könnte es auch anders sein, nein keine Baustelle, aber Hochzeiten. Ja sag mal, ist es das Jahr der Hochzeiten hier in Litauen? Sind hier so viele heiratswütig, weil es unendlich viele Störche gibt? Oder sind so viele Störche anzutreffen, weil so viel geheiratet wird? Gibt es Prämien? Wieder zig Brautpaare mit Gefolge erstürmen Parks und Schloss, nachdem sie zunächst den Parkplatz incl. der Busspuren völlig zugestopft haben mit ihren Fahrzeugen. Die Bösen! Gut, es ist ihr Land, und aus unserem gemütlichen Nachmittagskaffee mit Blick aufs Schloss wird dann eben nix.
Plan B muss her: ein Naturschutzgebiet in der Nähe, 20 km bis zu einem Parkplatz am See am Jachthafen. Klingt gut, Fahrt verläuft gut, obwohl Wim schon eine geschotterte Wegstrecke schwante, das Dörfliche kommt wieder, schön geschnitzte Heiligenaltärchen am Straßenrand sind zu sehen, in Fischräuchereien qualmt es, die Farben wagen sich wieder hervor. Welch ein Glück!
Und hat der Parkplatz auch Loch an Loch, hier bleiben wir, und gehn heut nicht mehr fort. Praktisch, direkt mal Sitzgruppen vor der Haustür. Schön, dieser Seeblick. Blöd, das Wetter, aber zartes Blau zeigt sich dann doch, wenn auch noch kein sattes Niddener-Blau. Vielleicht morgen … wenn wir auf Entdeckungstour gehn, denn hier ist so einiges versteckt. Sogar noch, man glaubt es kaum, ein Brautpaar! Ja, Fotosession auf Steg vor See. Ja. Aber das war‘s auch mit den Bräuten für heute.
08.08.2021 Sonntag
Der Sonntag beschert uns einen Gast, ein Schmetterling fliegt das offene Küchenfenster an, landet, bleibt für geraume Zeit.
Ja, das Küchenfenster steht offen, weil es nämlich nicht regnet. So werden wir heute die gepriesene knapp 30 km lange Tour durchs Reservat und um den See angehen und hoffen, das Wetter hält sich an die Vorhersage, und es stellen sich erst gegen Mittag ggf. leichte, vereinzelte Schauer ein. Von unseren süddeutschen Nachbarn im Kastenwagen werden uns unterdessen unsere Unzulänglichkeiten vor Augen geführt, sie sind nämlich schon von einer Hunderunde und einem Bad im See zurück. Puuuh … dann mal ran. Auf’s Radl schwingen nach einem kleinen Schwätzchen mit den Nachbarn, und auf ins Gebüsch auf den Radweg durchs Unterholz mit Seeblick. Sehr schön verläuft der Waldweg, auch über einen recht schmalen Holzsteg, auf dem man mit Hänger schon etwas zirkeln muss.
Es geht hügelig dahin. Und hinter einer der nächsten Biegungen Vollbremsung: umgestürzter Baum. Tja, da verweigern selbst unsere dickschlappigen Bikes, und es hilft kein „hau drauf, hau richtig drauf“. Also alles erstmal aussteigen, Hänger abhängen, einzeln das Equipment rüber bugsieren, Wim sei Dank, und es kann weitergehen, nachdem Bazou und Chianga noch einige parcourreife Springübungen absolviert haben mit riesigem Spaß, aber fototechnisch nicht verwacklerfrei.
Irgendwann, leider bald, führt der Radweg nicht mehr durch ufernahen Wald, sondern asphaltiert an der Straße entlang durch Felder und Wiesen mit kleinen Gehöften, aber auch hochherrschaftlichen Landhotels und Privatgrundstücken. Kurz schauen wir uns noch ein Wegealtärchen an, vermutlich ein Pilgerpunkt, wir wissen es nicht.
Dann tauchen wir wieder im Wald ein, der immer finsterer wird, weil der Himmel voller Regenwolken hängt. Irgendwo zwischen den Baumstämmen im tiefen Moos pflückt eine Frau etwas, Beeren oder Pilze, ich hätte gerne gefragt, aber der Regen fällt schon. Über schmalen Bürgersteig beeilen wir uns, voran zu kommen, es gießt mittlerweile ordentlich, aber an einer Lokalität so nass anzuhalten, bringt auch nix. An sehr vielen Plätzen mitten im Wald mit Sitzbänken und kleinen Hütten für jedermann, die auch von zeltenden Familien gut besucht werden, rasen wir vorbei, auch an einem schön gelegenen CP auf riesiger Wiese. Sehr tolle Ecken gibt es auf der ringförmigen Route, die um Litauens schönste Seen führt hier im Nationalpark Zemaitija. Und auf einem großen Picknickplatz erkennen wir ein Womo wieder, und tatsächlich auch den jungen Mann. Nein, es ist nicht der Radfahrer aus Tschechien, aber der Familienpapa vom CP auf der Kurischen Nehrung, der neben uns stand. Ja, klein klein ist die Welt, auch die in Litauen.
Klatschnass erreichen wir unser Womo nach zügig abgestrampelter Strecke. Nicht mal eine Banane war unterwegs drin, eigentlich die Mindestversorgung eines Radsportlers. Die Hunde sind ebenfalls klatschnass, selbst die Hänger konnten das Schlimmste für einen Ridgeback nicht verhindern. Beleidigt und wortlos verkriechen sie sich daher sofort unter Decken im Womo, während wir die Heizung anschmeißen, die Klamotten auswringen und das nasse Gelumpe irgendwo hin „hängen“. Wim schmeißt den „Moppel“ an, die Fahrradakkus können mangels fehlender Ladung heute nicht von den Bordbatterien gespeist werden. Ein weiteres Womo rollt ein, während ein Paar unter einem Sonnenschirm über die abschüssigen Feuchtwiesen zum See hin schliddert. Schade, vieles heute nicht entdeckt, aber gestählte Oberschenkel.
09.08.2021 Montag
Der heutige Tag beginnt mit einem Bad im See und endet mit einem solchen. Dazwischen spielt sich sehr viel ab, von Blitz und Donner über verpasste und genutzte Gelegenheiten bis zu einem guten Ende eben am See.
Noch kurz am sonnigen Morgen überlegt, ob wir einen weiteren Tag bleiben sollen, planen wir doch die Abfahrt, da dunkle Wolken aufziehen mit Gewitter und Regen. Also werden wir versuchen, wenigstens dieses „Museum des Kalten Krieges“, das gestern auf der Radtour dem Regen zum Opfer fiel, heute mit Womo zu erreichen, was letztlich nicht gelingt, da das letzte Stück der Zufahrt extrem löchrig ist und sowieso nicht asphaltiert. Aber hier liegen wunderschön in den urigen Wäldern versteckte Ferienanlagen, meist direkt an den Seen und mit allem, was Ferienherzen, vor allem die der Kinder und Hunde brauchen. Natur und Erlebnis pur.
Dann eben nicht, Zeit übrig, die am „Berg der Kreuze“ genutzt werden kann. Die Straße quer durchs Land ist zunächst schmal, noch gerade so brauchbar, und ziemlich hügelig. Man nennt die Gegend auch „litauische Schweiz“. In einem Dorf besorgt Wim ein paar Kleinigkeiten im Supermarkt. Es fällt auch hier auf, wie viele wunderschön gepflegte Kreisverkehre es gibt, wie alles blüht, Blumen überall und alle denkbaren geschnitzten Holzfiguren vom Heiligenbild bis zu Wölfen aus Holzstämmen stehen wie auf dem Präsentierteller.
Im Verlauf gelangen wir auf eine Hauptroute, sehr gut ausgebaut, und wir kommen schnell voran. Viel landwirtschaftlich genutzte Flächen rechts und links und extrem gute Storch-Ausbeute, wie gesät auf einem Acker. Überhaupt sind sie ringsum, stehen herum in den Weiden, meist allein, oder fliegen neben uns und begleiten uns ein Stück.
Nach 120 km können wir unser Womo an einer Baustelle vorbei schleusen und am Straßenrand parken und gehen zu dem Erdhügel, der voller Kreuze steht.
Tausende sind es, mit Inschriften aus aller Welt, unvorstellbar viele Varianten, Holz, Eisen, Edelstahl, Stein, von winzig bis meterhoch, mit Kreuzanhängern und Rosenkränzen behangen, und alles schart sich quasi um eine Mutter Gottes Statue.
Dieser Ort ist ein Wallfahrtsort und hat einen hohen symbolischen Wert für das Streben nach Unabhängigkeit der litauischen Bevölkerung, auch weil von sowjetischen Funktionären mehrfach versucht wurde, das Denkmal zu vernichten. Das endete mit Tausenden zerstörten Kreuzen, aber auch damit, dass es seither immer mehr werden an diesem für Katholiken aus allen Ländern heiligen Ort, den Papst Johannes Paul II im September 1993 besuchte und unter freiem Himmel vor 100.000 Gläubigen eine Messe zelebrierte im eigens errichteten Altarpavillon und die Aufgabe hinterließ, dass sich der Franziskaner-Orden im zu errichtenden Kloster um die Betreuung des Wallfahrtsorts kümmern solle.
So sitzen wir noch eine Weile auf einer Bank inmitten der Kreuze, nachdenklich. Ein kleines Holzkreuz, vor gut 30 Jahren von meinen Söhnen „gebastelt“, das einen Platz in meinem Büro hatte, hab ich im Gepäck. Es hängt nun mit einem Stück Draht befestigt an einer schmiedeeisernen Verzierung eines Kreuzes, eines unter vielen, als Bitte für das Wohlergehen meiner Söhne, unser aller Wohl und im Andenken an meinen verstorbenen Vater, der so viele tolle Sachen aus Eisen geschmiedet hat. Es hängt gut dort, gut aufgehoben.
Und wem solche Handlungen nichts sagen, der möge jetzt nicht peinlich berührt sein, es nur respektvoll auflesen und die Fotos anschauen, vielleicht mit einem klein wenig von der Andacht und Muße und Achtung, die ich beim Fotografieren spürte.
Gerne hätten wir auf dem rausgesuchten Bauernhof nicht weit von der Grenze zu Lettland entfernt genächtigt, aber leider scheitert der Versuch, denn die Wiese gibt schon, entgegen den Zusicherungen des Hausherrn, nach und das Concördchen sinkt schon leicht ein. So ziehen wir notgedrungen wieder ab, schade, bei einer Familie hätten wir uns jetzt gerne mal aufgehalten.
Den nah gelegenen SP am noblen Landsitz für 20€ ohne alles lassen wir links liegen, das passt heute nicht. Die 50 km zu einem Picknickplatz am See knapp vor Lettland reiten wir noch ab durch wirklich schöne Gegend und haarscharf noch in Litauen.
Und es lohnt sich. Wie herrlich man in Litauen die Freizeitbereiche für die Menschen hier herrichtet. Das kann man gar nicht genug loben. Und sie werden genutzt. Viele PKW fahren vor, die Leute spazieren, baden und grillen, obwohl ja nun ganz normaler Montag ist. Mal sehn, das Wetter ist toll, wohin es uns dann morgen verschlägt … möglich wäre Lettland.