Tag 59 - 14.03.2023 Dienstag
Neue Ufer, ja, aber vor diesen liegen neue Höhen. Und was für welche. Aber zunächst verlassen wir den wirklich reizvollen Platz zwischen Felsen und Palmen im schönen Tafraoute. Es ist sehenswert, gar keine Frage. Aber es fällt uns doch auf, dass die Zahl der Anbieter für alles Mögliche, die immer und überall zwischen den Womos herum laufen, gelegentlich ziemlich nerven. Aber das ist auch „Tagesform abhängig“. Viel viel mehr fallen uns die vielen kleinen Jungs auf, die bepackt mit Gebäck, Eiern und Flaschen herum ziehen (müssen). Sie schleichen mit bedröppeltem Gesicht durch die staubige Hitze, betteln fast, man möge ihnen etwas abkaufen. Dafür - für diese Kinderausbeutung - haben wir mittlerweile kein Verständnis mehr, und das gab es bei unserem ersten Besuch auch nicht in der Masse. Selbst Kartons voll mit Instant-Nudeln oder Knabberzeug bieten sie an wie warme Semmel. Ein Trauerspiel. Die Jungs tun einem natürlich sehr leid. Es dürfte so etwas nicht geben. Es müsste verboten sein, Kinder für derlei Arbeit einzusetzen. Ich denke darüber nach, eine Eingabe bei der Gemeinde Tafraoute zu machen, wenn ich wieder zuhause bin. Aber es ist nur so ein Einfall, einer der im Moment der Ohnmacht entgegen wirkt. Mit diesem leicht rebellischen Gefühl entsorgen wir an der perfekten Vorrichtung der Gemeinde am Ortseingang, allerdings unpassend direkt am Kinderspielplatz gelegen, und ziehen aus Tafraoute heraus.
Wir nehmen die Route Richtung Tal der Ammeln, können uns mit einem Blick ins weite Tal und die am Hang klebenden uralten Lehmhäuser in Oumesnat, wo wir mal in einem traditionellen Haus die tolle und sehr empfehlenswerte private Sammlung einer Familie, die uns ihr weiser blinder Patron und sein Enkel erläuterten, besichtigt haben, verabschieden. Ein letzter Blick auf den Löwenkopf, der in diesem frühen Morgenlicht nicht so gut erkennbar ist, und auf der R106 schnappt uns die rauhe Bergwelt des Anti-Atlas. Einige Dörfer ziehen sich über die Höhen, die Ländereien rundum wurden vermutlich sehr mühsam terrassiert und urbar gemacht. Viele Häuser deuten aber erfreulicherweise auf einen gewissen Wohlstand hin.
Bald erreichen wir den Punkt auf der heutigen Strecke von rund 180 km, für die wir letztlich 6 Stunden brauchen, kleines Päuschen und „Erste Hilfe“ müssen abgezogen werden, an dem es nach rechts abgeht auf eine uns noch unbekannte Route, eine direktere Querverbindung, die einem den großen Bogen über Igherm erspart, will man von Tafraoute nach Osten Richtung Merzouga und nicht nach Norden nach Taroudannt. Unsere Phoenix-Freunde haben die Straße vor ein paar Tagen befahren, mal zügig, mal weniger, mal vorsichtig ausgedrückt. Mangels Nummerngirl an der Straße kann ich nicht sagen, welche Nummer sie hat, partiell sicher fünfstellig. Also auf, der Berg ruft. Ein paar dörfliche Engstellen werden passiert, an ausgewaschenen Flussbetten entlang, und dann geht es hinauf bis auf knapp 1900 m. Mangels Lesbarkeit der spärlichen Beschilderung geistern wir über Höhenzüge durch eine phantastische Natur. Verfahren unmöglich, es gibt nur diese eine Straße. Es scheint auch keine Menschen zu geben. Es scheint auch keine Tiere zu geben. Kein Fahrzeug begegnet uns, kein Ziegenköttel zu sehen. Einsam halten Gehölze in absoluter Einzelstellung die Wacht.
Die Wacht am Rhein, fällt mir ein, ja, ein Flussbett, dem wir über viele Kilometer folgen, nimmt im Verlauf locker die Ausmaße von Vater Rhein an, und mehr, und viel mehr, obwohl es sich jetzt noch sehr bescheiden ausnimmt, so neben uns an der zunehmend nach irgendwo unten führenden Straße durch dieses Felsen- und Wüstengebirge, das ich so gerne „Pfannkuchengebirge“ nenne. Man könnte meinen, es seien überdimensionale knusprig gebackene Pfannkuchen mit dickerem Rand, die aufeinandergestapelt wurden und jeweils mal nach rechts und mal nach links abgesackt sind. So fächern sich in allen möglichen Erdfarben die einzelnen Felsschichten und stehen hoch aufgetürmt in der Landschaft, durch die sich die Flussläufe in den Jahrhunderten fräsen. Und bedingt durch das Unwetter der vergangenen Wochen zeigt sich das Ergebnis dieser Fräsarbeiten in zahlreichen Senken. Welche irrsinnige Kraft das Zusammenrotten von Wassertropfen entwickeln kann, bleibt nur zu ahnen. Ehrlicherweise muss ich sagen: ich müsste mir das nicht wirklich anschauen, wenn es von allen Höhen herunter prescht und ins Tal schießt. Der blanke ausgewaschene und mal blau, dann grün oder silber schimmernde Fels und die ausgebildeten steinernen Treppen und Becken, in denen nur noch sehr vereinzelt etwas Wasser steht, sprechen schon eine sehr deutliche Sprache.
An einem Steilstück, an dem sich über das Tal hinweg ein Dorf vor imposanter Bergkulisse in einer Mulde präsentiert, kommt uns ein Tross aus 5 zu Wohnzwecken ausgebauten LKW entgegen. Der erste hält an, es ist ein Deutscher, fragt nach dem Weg bzw. danach, ob man wohl denke, sie schaffen es dorthin, wo wir herkommen. Wenn die Vehikel ebenso jung und dynamisch sind wie die Fahrer, dann könnte es gelingen. Man will es versuchen. Jung sind sie jedenfalls nicht mehr. Mal sehn, ob man über das Schicksal durch irgendwelche Zufälle noch etwas erfährt.
Kurz darauf meint das Schicksal es jedenfalls gut mit dem Marokkaner, der ziemlich verzweifelt am Wegesrand winkt, im Hintergrund sein abenteuerlich schräg hängender PKW. Wir halten am Bergsträßchen an. Und mit vereinten Kräften gelingt es Frau, Söhnchen und Wim, das blaue Spielmobil aus der misslichen Lage zu befreien und den rettenden Asphalt zu erreichen.
Wie oft der Mann mit strahlendem Gesicht deutlich erleichtert seine Hand aufs Herz legt, zählen wir nicht mehr mit. Denn unsere schöne Fahrt, unsere gar nicht schnelle Fahrt geht weiter talwärts. Immer dem Flussbett folgend, vorbei an Gemüsegärtchen im Schwemmland und einer großen Hundemeute, die gelassen wartend auf einer Kuppe lümmelt, erwischen wir irgendwo einen wunderbaren Aussichtsplatz für eine Pause. Vor uns zieht sich ein Palmenhain am Fuß eines Berges zu einem Dorf hin. Im Fluss an einer für uns nicht sichtbaren Wasserlache waschen Frauen Wäsche. Bunte Decken und Kleidung liegen zum Trocknen auf den Felsen und hängen im Gebüsch. Schwerstarbeit ist das, auch das Schleppen der Wäsche wieder zurück ins Dorf. Da spürt man abends, was man getan hat.
Irgendwann stoßen wir auf die R109, und es geht nicht mehr so wild zu, sieht man davon ab, dass sich das Flussbett gigantisch verbreitert hat, und sich durch menschenleeres felsiges Bergland schlängelt. Einige Furten sind inzwischen durch Brücken ersetzt, ob sie halten, was sie versprechen, bleibt abzuwarten. Jedenfalls muss man wiederholen, wie unvorstellbar unfassbar es ist, sich die ganzen Täler und Flussläufe mit Wasser gefüllt vorzustellen.
Vor Tata verdichtet sich das Grün. Getreide strahlt hinter den Lehmmauern der Oasengärten. Dicke Bohnen wiegen sich im leichten Wind und glänzen etwas silbrig. Über allem wedeln die Palmenkronen. Wir sind am Ziel, d.h. nur noch eine Senke, eine Furt, ein Anstieg, und wir schlüpfen durchs Tor des gewählten und bekannten CP oberhalb des blaugrün schimmernden Flusswassers, in dem sich die männliche Dorfjugend voller Begeisterung vergnügt.
Keine Lust, irgendwas einzukaufen, keine Lust, irgendwas zu kochen, also Tajinenzeit. Und sie ist lecker, mit Backpflaumen, Rosinen und Hühnchen. Guter Schlaf ist gesichert.
Tag 60 - 15.03.2023 Mittwoch
Heiß ist es. Friedlich läuft das Flusswasser am zerfurchten Uferrand entlang. Wim macht die Räder klar. Einkaufen muss sein. Ich freue mich auf Durchstreifen des zwischen Anti-Atlas und Sahara liegenden, besonderen Städtchens Tata. Wir haben es in allerbester Erinnerung. Tata ist anders, Tata hat so viel Afrika, Tata hat unzählige Arkaden, Tata ist für uns, wie Tiznit, ein Ort zum Verlieben. Und er ist vom CP aus schnell mit Rad erreicht, rein in die Senke, über die Furt, rauf aus der Senke. Und schon steckt man in der trubeligen Geschäftigkeit zwischen der ausnehmend liebenswürdigen freundlichen Bevölkerung. Jede Menge „Streetart“ kann bestaunt werden, und natürlich hält das Leben wiedermal einen Kreisverkehr für uns bereit. Nicht zu glauben und auch auf unseren bisherigen Reisen gar nicht so gesehen, tummelt sich in der Kreisanlage eine kleine Meute Welpen, einer trolliger als der andere. Es ist schwer, wird seltsamerweise auch immer schwerer, die Finger möglichst davon zu lassen und keinen einzustecken. Ein Trost ist, sie quietschvergnügt zu sehen, aber nur ein schwacher.
An einer Straßenecke pflanzen wir uns sofort mal in ein Café und genießen ein Tässchen. Die Hitze ist schon ordentlich. So heiß haben wir die Gegend um diese Zeit, bis auf unser Sahara-Lager am Erg Chebbi, auch noch nicht erlebt. Wir beobachten die Menschen, treffen unsere sympathischen französischen CP-Nachbarn, halten ein interessantes Schwätzchen über Polarlichter in Norwegen, was aber auch nicht wirklich Kühlung bringt, dennoch vergnüglich. Danach sind ein paar Besorgungen in der Gemüsestraße fällig.
Der Duft von frisch gebackenem Brot mit leichter Röstaromanote zieht durch eine der Gassen. Kleinhirn an Großhirn: folgen! Und siehe da, da steht schon der grinsende backende Schieber am glühenden Hochofen und stapelt einen köstlichen Fladen nach dem anderen in seiner bescheidenen Auslage. Die Besonderheit ist, dass er hier das Berber-Brot backt. Sein gasbetriebener Ofen ist ausgelegt mit Steinen, meist Kieselsteine, er nutzt groben Basaltsplit. Darauf legt er dünne Teigfladen, die fein säuberlich vorbereitet auf Tüchern hinter ihm liegen, er hebt sie auf einen mit Wasser befeuchteten Holzschieber und bugsiert sie gekonnt auf die Steine im Ofen. Das alles will er mir mit Zeigen auf meine Kamera näher bringen und bittet mich hinter die Theke. In der Hitze an der Hitze, ganz schön heiße Sache. Zwei junge Männer, Hicham und Yussuf, am gegenüberliegenden Stand lachen sich schlapp, wollen, dass ich sie auch fotografiere. Na ja, kein Problem, Facebook wird gestartet, abends schicke ich ihnen die Fotos, postwendend kommt das Dankeschön. So sind sie.
Der Nachhauseweg wird nicht auf direkter Route erledigt, sondern führt noch durch viele Gassen und an einem Hähnchengrill vorbei. Überall herrscht derart gelassene Stimmung. Die Menschen stehen, sitzen und liegen hinter, in und um die schattenspendenden Arkaden, meist vertieft in intensive Gespräche, man lacht viel zusammen. Und das, obwohl der extrem hohe Anteil an dunkelhäutigen Menschen, den Tata hat, vor Generationen nichts zu lachen hatte. Sie wurden in den Plantagen der Oasen eingesetzt, sie waren Sklaven.
Der Abend bringt uns noch eine kurze Flusswanderung, ein knuspriges Hähnchen und einen pastellig, aber immer kräftiger leuchtenden Himmel. Wer weiß, unter welchem Himmel wir morgen nächtigen.