Anreise bis zur Grenze Polen

20.07.2021 Dienstag

Endlich. Wir - beide geimpft, die Hunde natürlich auch - können losziehen. Die Gefühle sind extrem gemischt. Die Bilder der unsagbar katastrophalen Überschwemmungen, die u. a. unsere Region heimgesucht haben, setzen sich in einem fest. Die armen Familien, die Angehörige betrauern müssen, die den Fluten zum Opfer gefallen sind, haben unser ganzes Mitgefühl. Dieses Elend, Todesangst aushalten zu müssen und plötzlich vor dem Nichts zu stehen. Aber es ist ja noch nicht einmal „nichts“, nein, dieses Nichts muss erstmal aus hüfthohen Wülsten von Schlamm und Morast und haushoch angeschwemmtem Gerümpel herausgeschält werden. 

Was bleibt ? 

Man hat keine Antworten - und die, die sich um Antworten bemühen, klingen auch nicht plausibel. 

Aber alles gehört jetzt und hier zu unser aller Leben, ein anderes haben wir nicht. Das schlechte Gewissen reist mit, ich spüre es deutlich. Wir hatten Glück, andere nicht. Auf dieser Reise wird die Nachdenklichkeit gehörig Platz einnehmen. 

In diese betretene Stille während unserer Abfahrt gegen Mittag durch unser Sträßchen in den Höhenlagen der Eifel lässt Wim das Horn des Concördchens dröhnen, eine LKW-Hupe, ähnlich einem Ozeandampfer, vom Vorbesitzer eingebaut. Wim lacht sich schlapp, während ich vor Schreck fast vom Sitz rolle. Dieses Horn verabschiedet uns zum einen von meiner Schwester und meiner Mama, die an der Ecke wohnen, und zum anderen von einer lieben Nachbarin, Frau M. Sch. aus B., die schon unsere Abfahrt „anmahnte“, da sie gerne lesen möchte, was sich unterwegs so tut bei uns. Vielleicht liest sie das und freut sich, wenn sie nun per Reisetagebuch wieder mitfahren kann. 

Vorbei an der Kyll, die sich unsäglich scheinheilig und trügerisch durch die in eine Richtung gekämmten Wiesen im Tal mit Bergen von Treibgut schlängelt und vor einer Woche alles überflutet, mitgerissen und verwüstet hat, geht‘s Richtung Autobahn. Kaum Verkehr, gutes Wetter, LKW-Überholverbot mit Zusatzschildchen „Wohnmobile frei“ - was will man mehr? 

Unterwegs kommen uns viele Militärfahrzeuge entgegen und ein ellenlanger Konvoi „Thüringen Katastrophenschutz“ mit etlichen schweren LKW und jede Menge Transporter und Einsatzfahrzeuge mit Blaulicht, die ganz sicher auf dem Weg in die Überschwemmungsregionen sind. 

Die gut 300 km bis zu unserem ersten Stopp sind flott abgerissen. Wir planen diese Tour ganz bewusst mit kurzen Etappen und landen in Dankmarshausen direkt an der Werra mit Blick auf das kleine proppere Fachwerkdörfchen an der Grenze Hessen-Thüringen am Fuße des 530 m hohen „Monte Kali“, einer imposanten Salzhalde hier im Bergbaurevier Werra.

Ein bisschen Phantasie, ein Schluck Wein, und der „Kalimandscharo“, wie man diese Kuppe auch spaßig nennt, umweht ein Hauch Afrika … gut, vielleicht muss man auch mehrere Schlückchen nehmen. 

Regen ist nicht angesagt, die Werra fließt ruhig und beschaulich in ihrem Bett. 

Also bleiben wir und leisten ihr heute Nacht Gesellschaft.

21.07.2021 Mittwoch

Eigentlich ist heute so ein typischer „Eigentlich“-Tag. Früh wollten wir eigentlich weg, trödeln aber wieder herum, wenn auch für die kurze Strecke von 100 km bis Erfurt heute nicht tragisch. Die ersten Tage, vor allem der erste Morgen auf Tour, sind immer etwas schwierig, es ist noch nicht alles wieder eingespielt, jeder steht jedem im Weg, noch nicht jeder Handgriff sitzt so, wie es einem reibungslosen Ablauf dienlich wäre. Aber wir schaffen es dennoch, nehmen die Hürden und rollen über das heimelige Schlafplätzchen am Werra-Ufer davon Richtung Autobahn. Eigentlich ein Katzensprung, der allerdings abrupt ausgebremst wird im nächsten Örtchen mit „Anlieger bis Baustelle frei“ unter Drohung „keine Wendemöglichkeit“. So quetschen wir uns durch diverse Engstellen, lesen im Vorbeikriechen auf einem Plakat die Vorankündigung für ein Karat-Konzert - ja, die gibt es immer noch - und gelangen über ein paar Umwege auf den richtigen Pfad, dann auf die AB und bald darauf in einen satten Stau auf der eigentlich wenig befahrenen A9. 

Aber bis Erfurt und dem anvisierten SP ist es nicht weit, eigentlich gut zu finden, aber: Stellplatz voll. Schade, schade. Nix zu machen, Alternative „park & ride“ wird verschmäht, ebenso der unpersönliche Parkplatz an der Messe, stattdessen wird eine neue Suche gestartet. In 70 km Entfernung bietet sich ein SP an einem Reiterhof. Klingt gut, Sightseeing Erfurt wird verschoben, und wir peilen das Gestüt an. Nur 20 km von der AB entfernt kommen wir über dörfliche enge Straßen durchs hügelige Ackerland zu einem herrlichen Plätzchen in Heideland.

Hinter einem alten wunderschönen herrschaftlichen Hofgut mit Hofladen, Hoffleischerei und Restaurant liegt der Bereich für Wohnmobile. Wundervoll und sehr liebevoll dekoriert wirkt alles, zudem perfekt gepflegt. Auf einer großen, frisch gemähten Wiese ist mit Stromversorgung, großen Mülltonnen, Blumenkübeln und Sitzmöglichkeiten alles bestens gerichtet für Camper. Und alles umsonst! Ja, unglaublich. Der Reiterverein, der diese ehemalige Koppel hergerichtet hat, bittet um eine Spende - mehr nicht. Eigentlich unglaublich. 

Ein junger Mann, der hoch zu Ross herzlich die Gäste auf dem SP begrüßt, erzählt uns begeistert, dass es die Möglichkeit noch nicht so lange gäbe, aber man hätte sich gedacht, der Reiterverein könne ja zur Erhaltung des Betriebs Geldmittel brauchen und die Camper den Platz. So ist allen geholfen. 

Das Lokal hat zwar leider diese Woche geänderte Öffnungszeiten, essen können wir dort heute Abend nicht, aber der Blick in die Hofmetzgerei sorgt aus: Wim brät handgemachte frische Thüringer, dazu einen Thüringer Bratwurst Senf aus dem Hofladen, eigentlich ein köstliches Menü, uneigentlich auch. Morgen werden wir sehen, ob unsere eigentlich geplante Dresden-Besichtigung gelingt. Wir hoffen, wie die riesigen Vogelschwärme, die sich hoffnungsfroh in den Abendhimmel schwingen. Eigentlich ein Idyll hier.

22.07.2021 Donnerstag

Und weil‘s hier so schön ist, bleiben wir noch einen Tag. Dresden läuft nicht weg. Sommersonnenschein, Faulenzen, Schmökern, nichts gebacken. Aber ja doch: Käsekuchen mit Buttercremeguss und Mohnkuchen aus dem Hofladen. Verpflegung muss stimmen. Vogelschwärme ziehen wieder um und über uns. Ein geruhsamer Nachmittag bahnt sich an, findet aber ein jähes Ende, da sich die Elternschaft einer Kindergartengruppe äußerst emsig mit dem Beischleppen von Leckereien auf Platten und Blechen zu schaffen macht und alles mitten auf der Wiese auf den Holztischen anrichtet unter einem Dach aus bunten Luftballons. Woher wir wissen, dass es Eltern von Kindergartenkindern sind? Weil kurz darauf der alte Trecker angeschnauft kommt und aus seinem anhängenden Planwagen mit großem Gejohle eine aufgedrehte Kindermeute heraus springt und die Wiese flutet. Klingt laut, ist es auch. Aber sie haben Spaß, feiern ihren Kindergartenabschluss, starten morgen in die Ferien und anschließend in eine hoffentlich gelungene Schulzeit. Erinnerungen an unsere Kinder werden wach, vom Babyschwimmen über Krabbelgruppen, Töpfer- und Bauchtanzkurse, musikalische Früherziehung, Chorknabenzeiten und BMX-Torturen - so hat alles seine Zeit. Und hier ist deutlich Familienzeit, auch am Abend, als sich die Wiese mehr und mehr mit Wohndosen aller Varianten füllt und aus jedem Womo Kinder purzeln. Hier finden sie reichlich Abwechslung. Ein (noch) älteres Ehepaar beklagt das etwas, sie hätten im Juni an der Ostsee schon in Scharen von Kindern urlauben müssen. Na ja, der Generationenkonflikt kann sich, wenn man’s drauf anlegt, überall bemerkbar machen und die explodierende Zahl der Neu-Camper birgt sehr viel Potenzial. Es wäre gut, man könnte untereinander einfach jeden lassen, einfach sein lassen. Aber das ist eben nicht „menschlich“, zu Recht oder zu Unrecht.

23.07.2021 Freitag

Heute ziehen wir weiter, versenken eine gute Spende in der Box und sind tatsächlich auch gegen halb 10 soweit und verlassen die schöne Hofanlage durchs Hoftor, das gerade noch so Platz hat für unser Concördchen. Die ausgewachsenen Concorde können etwas weiter die torlose „Dienstboteneinfahrt“ nehmen, die allerdings direkt am Misthaufen vorbei führt. Nun ja, Augen zu und durch, das Leben ist manchmal hart. 

Unterwegs gibt es eine Entsorgungsstelle direkt an der AB, die noch besucht werden muss. Grauwasser konnten wir nämlich am Reiterhof nicht loswerden. Die Sonne scheint, es ist hochsommerlich warm. Die Hunde quengeln heute herum, manchmal ist das so. Aber die gut 100 km bis Dresden sind schnell gefahren. Ziel ist der Alberthafen, dort ein Lokal, das Womo-Übernachtungen bietet, zwar nur ganz wenig Platz hat, aber wir wollen es versuchen und bewusst den stark frequentierten SP am anderen Elbufer meiden. Im Nord-Westen von Dresden erreichen wir das Lokal, kurze Anmeldung beim Kellner, genehmigt, 10 € pro Nacht, Hundeauslauf perfekt, alles bestens. In einer Sackgasse können wir am Rand des Alberthafens lagern, ungestört. Ein alter Kahn dümpelt im trüben Hafenbecken, altgediente Gerätschaften und Kräne blicken sicher auf viele Jahre großer Geschäftigkeit zurück. 

Die Elbwiesen grenzen unmittelbar an, der Elberadweg ebenfalls, keine 10 Minuten per Rad, vorbei an zahlreichen gut besuchten Sportplätzen und einer riesigen Volksfestwiese, auf der sich gewichtig und lautstark ein Harley Davidson Treffen ankündigt, und wir stehen mittendrin. Die Promenade unter den alten Mauern des Elbufers bietet immer wieder herrliche Ausblicke auf Brücken und Brückenbögen. Gut besuchte Ausflugsdampfer legen an und ab. Mundschutzlos freuen sich die Menschen an der gestiegenen Lebensqualität und sich ihres Lebens, hoffentlich geht es gut. 

Mittendrin in dieser unbeschreiblichen Pracht an barocken Bauten, in einem riesigen Schmuckkasten, randvoll gefüllt mit unschätzbaren Werten: in Dresden.

Kannten wir natürlich von Bildern her die Sehenswürdigkeiten, so ist es doch etwas völlig anderes, an ihnen vorbei zu radeln und es so geballt auf sich wirken zu lassen.

Man muss schon achten, nicht vom Rad zu fallen vor lauten Gucken. Und übrigens ist nirgendwo Verbot für Räder, es gelingt prima, sich alles auch in kürzerer Zeit anzuschauen, um sich einen bleibenden Eindruck zu verschaffen, ohne direkt alles vertiefend zu besichtigen. 

Kaum eine runtergekommene Ecke ist zu sehen, zwar zahlreiche Baustellen, aber natürlich müssen die sein, bei solch umfangreichen Rekonstruierungen der klassischen Architektur. 

Die Außengastronomie ist bevölkert, die Parkbänke sind besetzt, die Beete bunt bepflanzt in leuchtenden Farben, dazwischen Hufgeklapper der Kutschenpferde und das Schnurren der Rikschas und E-Scooter. 

Besonders begeistert hat uns der Anblick des größten Porzellanbildes der Welt, dem Fürstenzug, der Ahnengalerie der Markgrafen, über 100 m lang, gestaltet mit 23.000 Fliesen von Angestellten der Königlichen Porzellan Manufaktur Meißen, das die Luftangriffe auf Dresden am Ende des Zweiten Weltkriegs weitgehend unbeschadet überstand.

Wir drehen mehrere Runden, genehmigen uns ein Bierchen, radeln zurück und fallen erstmal bei mittlerweile 30 Grad nach den ganzen Eindrücken in eine Schlaf-Wach-Phase. Aber der Abend lockt, und damit der reservierte Tisch im Alberthafen. Voll besetzt ist das schöne Lokal, sahnig die Pasta mit Lachs, köstlich die Quarkkeulchen mit Apfelkompott und Eis, freundlich und aufmerksam der Service, herzerwärmend der Sonnenuntergang, angeblich die schönste Stelle dafür in Dresden. 

Untermalt wird das Ganze von einer leicht schräg daneben liegenden Band, die den Harley-Fahrern mit ihrer Version des AC/DC-Gassenhauers „Hells bells“ einheizt. Evtl. ist es auch nur die Generalprobe, die man ja bekanntlich versauen sollte. Nicht versauen dürfen es die waghalsigen Burschen, die sich um eine zwischen zwei Hafenkränen gespannte Leine wickeln und vorwärts bewegen oder hoch oben offenbar für halsbrecherische Trapeznummern üben. Sachen gibt‘s … und morgen geht‘s nach Polen, denn noch ist Polen nicht verloren.