31.08.2021 Dienstag
Auf geht‘s. Tallinn lockt. Das Wetter sieht gut aus. So besteht berechtigte Hoffnung, die Stadt in schönem Licht zu erleben. Ja, manchmal muss man sich das kommende Ziel richtig schön reden, um einen Abschied zu erleichtern, denn der fällt schwer, mit Recht, es ist wundervoll hier. Wir sind früh dran, nutzen wir also den Tag und raus aus dem Gebüsch, durchs kleine Dörfchen hindurch, an Waldrändern entlang, wieder voller Menschen mit randvoll gefüllten Eimern mit Pilzen, und Richtung Fernstraße.
Auf Tallinn zu wird der Straßenbelag erneuert. Übrigens gibt es auf dieser Fernstraße sogar Bushaltestellen und Fußgänger-Warnschilder. Während wir so nachdenken, warum auf dieser tadellosen Straße Erneuerungen gemacht werden, geraten wir auf ein Stück, das extrem holprig ist. Also hierauf hätten wir keine 5 km fahren wollen, mörderisch. Und die ersten Industrieanlagen kommen zum Vorschein, sehr moderne Wohnsiedlungen und für uns wunderlich hohe Felswände, durch die die Straße offenbar getrieben wurde. Na ja, es gibt ja hier auch einen „Domberg“, mal sehn, wie wir wo klettern müssen.
Bei mittlerweile stahlblauem Himmel fahren wir im Norden der Stadt am Ostseeufer entlang bis zum Jachthaven im Hafenviertel Pirita, regeln vor der Schranke die Formalitäten mit einem knurrigen älteren Parkwächter und laufen ein, oder besser: reihen uns ein am Ende des für Womos vorgesehenen Parkstreifens, denn - oh Wunder - ein paar wenige Womos stehen hier.
Wir wollen keine Zeit verlieren und uns heute noch Tallinn vorknöpfen. Während eine Segelschule alles klar macht zum Auslaufen, richtet Wim Räder und Anhänger, ich die Package mit „Wertvollem und Wichtigem“, das wir bei Verlassen des Womos immer mitnehmen. Und Abfahrt. Ja, gelesen hatte ich, dass man die Altstadt über eine schöne Promenade am Finnischen Meerbusen entlang in 6 km erreicht, aber „schön“ ist immer relativ. Denn wie schön sie wirklich ist, wie hervorragend es ist, hier mit Rad unterwegs zu sein, das erleben wir gerade. Genuss hoch 3. Gut, das Wetter spielt mehr als gut mit, der Wind nur leicht und lau. Prächtig, wie die Skyline von Tallinn in der weiten Bucht, die weißen Schwäne auf der See, die exklusiv und besonders ausgefallen bepflanzten Beete, die Spiel- und Sportbereiche, die Sitz- und Verweilmöglichkeiten, die Springbrunnen und Wasserspeier und Kunstobjekte, der Radweg an sich und alles rundum. Sehenswert. Allein deswegen können wir den SP im Jachthafen wärmstens empfehlen.
Bis zum südlichen Ende der Altstadt radeln wir, schlagen uns dann irgendwo nach links und tauchen durch ein Tor der Stadtmauer, die den alten Stadtkern fast ganz umschließt, ein in die altehrwürdigen Gassen der ebenso altehrwürdigen Hansestadt mit fast komplett erhaltenem mittelalterlichen Kern. Von hier aus reichten im 15. Jahrhundert Handelsverbindungen über Lübeck bis zu den Niederlanden und Portugal und sogar bis in den russischen Norden, die der Stadt zu großem Wohlstand verhalfen und die meisten bedeutsamen Bauwerke ermöglichten. Weltkulturerbe? Natürlich, auf Schritt und Tritt auch mit voller Berechtigung. Tallinn wirkt auf uns authentisch, weil eben kaum rekonstruiert werden musste. Es zeigt deutlich die Spuren der Jahrhunderte, erinnert für Momente an die Kölner Altstadt, nicht mehr ganz „neu“, aber fein gemacht. Es macht Freude, sich einfach über das manchmal extrem holprige Pflaster der Unterstadt treiben zu lassen. Die „Drei Schwestern“, das „Schwarzhäupterhaus“, der „Lange Hermann“ und die „Dicke Margarete“ haben viel zu erzählen, in die Geschichte kann man sich intensiv vertiefen.
Dazu haben wir allerdings keine Zeit, im Moment jedenfalls nicht, denn wir hängen mit Rädern und Hängern am Steilstück rauf auf den Domberg, eine Kalkhöhe mit fast senkrecht abfallenden Hängen. Lieber Herr Gesangsverein, das hat es aber in sich. Da muss unser Daumengas aber ran, denn zumindest meine Oberschenkel schaffen das, trotz guter „Ausstattung“, alleine nicht. Aber Chianga wiegt auch so viel, dieses Tier. Wir schieben es, das Rad, und schaffen ihn, den Domberg. Und den sollte man sich nicht entgehen lassen, zumal uns großes Glück hold ist, diesen Stich nach oben überhaupt erwischt zu haben, denn es gibt von der Unterstadt rauf nur zwei Möglichkeiten nach oben, diese hier, an der wir kleben und uns abarbeiten, und eine mit Treppen - wie sich später - leidvoll - herausstellt.
Wie auch immer, hier oben erwartet einen Pracht ohne Ende.
Und Aussicht, volle Aussicht … auf das malerische Gewirr der Ziegeldächer und die Türme und Türmchen, egal ob historisch oder modern.
Abwärts radeln wir natürlich an anderer Stelle. Verhängnisvoll, ein fataler Fehler, da uns noch nicht bekannt war, dass man eigentlich nur eine Möglichkeit hat. Denn halbwegs unten angekommen, stehen wir vor Treppen. Also entweder darüber buckeln oder wieder rauf. Wir wählen „wieder rauf“ ohne großes Nachdenken und im Vertrauen auf das Daumengas und lassen uns, unten in der Unterstadt irgendwie wieder angekommen, in das älteste Café Estlands fallen. Ich muss nicht erwähnen, wie toll Beeren-Pudding-Gebäck und Zimt-Kardamom-Schnecke schmecken?
Nun wurschteln wir uns durch bis zum Rathausplatz und genießen bei einem Drink in der Sonne die Atmosphäre. Gut, Wim hat mehr als einen „Drink“, ein großes Bier ist gleich ein Humpen von einem Liter. Prost, Mahlzeit. Wenn er danach nicht mal vom Rad kippt. Übrigens hier wie auch in dem Café müssen wir selbst auf der Außenterrasse unsere Impfnachweise zeigen, das erste Mal auf unserer Reise.
Eigentlich ist alles sehr beschaulich hier, langsam bewegt sich eine überschaubare Menschentraube und lässt sich treiben. Hin und wieder sehen wir Gruppen. Was mag hier los sein, wenn wieder alles auf Hochtouren läuft und Busreisende ankommen und Kreuzfahrtschiffe anlegen. Nicht auszumalen.
Auf der Rückfahrt geraten wir am Haus der Gilde in einen Plausch mit einem lustigen Mann, der uns ins renommierte traditionelle Restaurant locken will. Er erklärt uns, obwohl wir nicht seine Gäste werden wollen, seine Kleidung ganz genau, was ihn unterscheidet von seinen Kollegen in anderer Kleidung. Je bauschiger die Ärmel des weißen Hemdes gewesen seien, je höher der Rang im Mittelalter. Er schenkt uns mit Zwinkern eine Münze, mit dieser würde uns beim nächsten Besuch Einlass gewährt und ein Schnaps kredenzt. Ja, natürlich alles eine touristisch ausgeklügelte Taktik, aber sehr charmant an den Mann und die Frau gebracht.
Durch einen ganz alten Teil eng an der Stadtmauer entlang führt uns unser Weg ins zeitgemäßere Tallinn und auf einen Platz, gesäumt von Blumenständen. Eine ganze Straßenseite voller Schnittblumen. Wims Floristenherz schlägt hoch und höher. Lange schauen wir uns das Geschehen an. Touristen werden ja wohl selten etwas kaufen, die Einheimischen müssen Blumen wirklich lieben, denn es bilden sich sogar Schlangen vor einzelnen Geschäftchen. Gefragt sind besonders Gladiolen und kleine bunte Gartenblumengebinde. Es ist wirklich eine Wonne, die Augen über die ganze bunte Pracht gleiten zu lassen. Und es überkommt meinen Wim, ist es die wahre Liebe .. oder doch nur Nebenwirkung des Humpen ? Man weiß es nicht. Jedenfalls verschwindet er zwischen den Blumentrögen und kommt zurück mit einer langstieligen rosa Rose für mich.
Diese transportiere ich dann stolz in meinem Fahrradkorb auf dem Rückweg zum Womo.
Am Abend radele ich noch etwas im Hafen herum. Die Gebäude und Anlagen entstanden Ende der 70er Jahre für die vom Westen boykottierten olympischen Spiele im Jahr 1980. Hier fanden die Segelwettbewerbe statt. Das riesige Gefäß, in dem das olympische Feuer loderte, strahlt im Glanz der tief stehenden Sonne und würde sicher gerne jedem berichten von den tollen sportlichen Leistungen der Segler mit ihren Booten unter dem Wind.
Der Abend kommt, die Sonne geht. Masten, Boote, die See, die Himmelsfarben, die Lichter Tallinns, immer wieder ein Erlebnis der Extraklasse.
01.09.2021 Mittwoch
Der Wind bläst in die Backen was das Zeug hält. Der Busen, der Finnische, ist ganz schön in Wallung, heute mal in weißer Spitze, oder besser mit weißer Spitze, wogt und wallt und wellt er in die weite Tallinner Bucht. Wie zum Trost zeigt sich der Himmel aber wieder wolkenlos blau, und es ist warm. Leider habe ich Netzprobleme, Guthaben aufgebraucht, WLan vom Jachthafen schwächelt, wie die allgemeinen Netze so häufig, Fotos laden unmöglich. Heute ziehen wir weiter. Vorher unternehme ich aber noch einen Versuch, die Website zu bestücken, direkt vom Pförtnerhäuschen aus. Ja, das gelingt etwas besser, Texte werden verarbeitet, Fotos dauern ewig. Also Abbruch, weil das tierisch nervt. Und da Wim diese Nervenleistung nicht aufbringen sondern abreisen will, gebe ich mich notgedrungen geschlagen, und wir starten.
In der Bucht liegt ein Riesendampfer vor Anker. So mit Abstand erkennt man die Dimension eines solchen Kreuzers im Vergleich zur Bebauung. Dagegen wirken selbst die großen Fähren wie Nussschalen. Im Netz kann man ja die Kreuzfahrtschiffe verfolgen und sehen, welches wann wo ist. Bei gutem Netz *seufz* werde ich insoweit mal stalken.
Quer durch Tallinn müssen wir über breite Straßen mit viel Verkehr und vorbei an sehr unterschiedlichen modernen, zum Teil sehr hohen Bauwerken. Wohnsiedlungen folgen und ein offensichtlich sehr schickes Villenviertel mit exklusiven Anwesen und großen Gartenanlagen. Jeder Baustil ist vertreten, es wurde nicht gekleckert. Es ist wunderbar, daran vorbei zu fahren, aber im Foto festhalten ist nicht so meines, dann doch lieber das kleinste 189. Hutzelhäuschen von anno Pief.
Schöne Landschaften mit einem Himmel wie gemalt begleiten uns auf den 100 km bis zum Städtchen Haapsalu Richtung Südwest.
In Haapsalu angekommen, steuern wir zunächst einen Supermarkt an. Einiges fehlt an Bord. Man trägt Mundschutz. Trotz Maske ist nicht zu übersehen, dass die Blicke wenig freundlich sind und sich die Verkäuferinnen keine Mühe machen, mich zu verstehen, eher nur lustlos abfertigen, was mir wirklich unverständlich ist und mir sehr leid tut. Es fällt mir nicht schwer, spätestens seit unserer Marokko-Zeit, zu erkennen, was und wie Augen sprechen, selbst wenn das Gesicht ansonsten total verdeckt ist. Na ja, evtl. erwischte ich bisher einfach nur schlechte Tage beim Gegenüber, aber es zieht sich ein klein wenig durch unsere Reisetage, und das ist einfach nicht schön, denn unsere Reisefreude lebt auch vom Austausch miteinander, es gehört einfach für uns dazu, zu einem Reisen, das bewegt.
Einkäufe verstaut, und wir suchen uns den PP am Meer, wo Übernachten erlaubt ist, es sogar Stromsäulen geben soll, Frischwasser und Entsorgungsmöglichkeit, und das alles kostenlos. Um 3 Ecken herum, und wir sind angekommen auf einem großen asphaltierten Platz mit Sitzgruppen, grandiose Sonnenuntergangslage, direkt an einer Wiese mit Sitzbänken sogar in weiß, und knöchelhoher See bis weit rein. Bei Badewetter ganz sicher ein begehrtes Plätzchen. Wir sind jetzt allein, ein kleiner Wohnwagen nebenan wirkt wie nur abgestellt und im Moment nicht bewohnt.
Ein Imbiss wird gerichtet und draußen verspeist. Gesellschaft leistet uns ein alter Mann mit wehendem weißen Haar und Bart. Wie aus dem Nichts ist er plötzlich da. Er wohne ganz am Ende der Landzunge in einem alten Haus, komme sich immer hier das Trinkwasser holen, da bis zu seinem Haus keine Leitung liege. Strom habe er aber. Und er plaudert in recht gutem Deutsch drauf los. Seine Mutter wäre eine geborene Hoffmann gewesen, seine Oma hätte Anna Hermann geheißen. Hier hätten 14 deutsche Familien gelebt, sei alles irgendwie gemischt worden, lacht er, halb Schweden, halb Deutsch, Hauptsache nicht Russisch. Das hätte man Jahrzehnte nicht sagen dürfen, so viele seien ab nach Sibirien verschleppt worden nach irgendwelchen unpassenden Äußerungen. Hier sei ein großer Militärstützpunkt gewesen. Sein Vater sei gefallen im Krieg. Kriegsbedingt seien viele in alle möglichen Länder der Welt ausgewandert. Schließlich gibt er uns noch ein Heftchen über die Kirchengemeinde in estnischer Sprache und fragt mich, ob ich vielleicht mal nach einem deutschen Buch gucken könnte, das er so gerne hätte. Er schreibt mir seine Adresse auf und Autor und Verlag und Mitautoren, so aus dem Stehgreif. Der Mann ist 80 Jahre alt. Spätestens wenn ich zuhause bin, verspreche ich ihm, werde ich forschen und hoffen, das Buch für ihn zu finden. Dann schiebt er wieder ab mit seiner verbeulten 5-Liter-Plastikflasche.
Der Gang zum Ufer fällt kurz aus, da es einfach zu stark windet, zwar bei herrlichem Sonnenschein, aber sehr frisch.
Während ich eine Staren-Gesellschaft beim Abendessen im Gasthaus „Zum grünen Halm“ beobachte und auf den sich anbahnenden Sonnenuntergang warte, schleicht doch tückisch aus dem Hinterhalt ein Teil eines breiten Regenbogens unter den Wolken hervor. Also man hat doch wirklich nicht Augen genug!
Die unverzagtesten Kite-Surfer sind noch zugange und pflügen den Wellenacker, der erste tiefergelegte Audi mit viel Bass im Wageninneren steht hinter uns parat mit seinem wohl im Hörvermögen eingeschränkten jugendlichen Fahrer und wartet auf motorisiertes Publikum, als sich die Sonne verabschiedet für heute.
02.09.2021 Donnerstag
Erstaunlich, aber man hörte nachts keinen Pieps. Stille. Kein Motorgejaule, kein wildes Gelage. Das geziemt sich hier wohl nicht in Haapsalu, dem kleinen Städtchen, das sich im Mittelalter zum Schutz des Bischofssitzes entwickelte und im Laufe der sehr turbulenten Jahrhunderte häufig die Herren wechselte, sich ab ca. 1800 zum Seebad mit Schlammheilstätte mauserte und bis heute ein beliebter Kur- und Erholungsort ist, in dem schon die Zarenfamilie die Sommermonate verbrachte. Zarenwetter ist auch heute wieder, wenn nur der Wind nicht so stark wäre. Unseren verhätschelten Hunden macht es aber wenig aus, sie jagen erstmal Runde um Runde über die menschenleere Ostseewiese.
Dann wird gesattelt. Zunächst versuchen wir, an die Spitze der Landzunge zu gelangen, was scheitert, weil bald vor einigen maroden Gebäuderesten abgesperrt ist. Auch der nächste Versuch auf der anderen Zunge hinter dem Hafen misslingt und endet an einer Schranke. Vor vielen Jahren war hier ohnehin von den Russen alles verriegelt und verrammelt, ein militärisches Sperrgebiet, wie uns gestern der alte Mann erzählte.
Nun nähern wir uns dem Kurstädtchen von der Seeseite her auf sehr gutem Radweg. Schöne Häuser liegen an, alles bunt und sehr aufgeräumt. Es macht wieder sehr viel Spaß, herum zu radeln.
Durch die Gässchen der mittelalterlichen Altstadt, die komplett unter Denkmalschutz steht, gelangen wir zum weit über 100 Jahre alten Kurhaus, das prächtig und umrahmt von Blumenbeeten mit Blick aufs Wasser an der Promenade liegt. Einen Blick werfe ich in den Kursaal, in dem sich sicher Tausende Menschen bereits vergnügt haben.
Durch die weitläufigen Parkanlagen kommen wir zur wohl bedeutendsten Sehenswürdigkeit hier in Haapsalu: der Bischofsburg. Mitte 13. Jahrhundert wurde sie in Teilen errichtet, war umgeben von einer Burgmauer, von der heute noch 800 m erhalten sind, und hat, wie eigentlich alles im Baltikum, eine sehr bewegte Vergangenheit, was Nutzung, Sinn und Zweck und Erhaltungszustand anbelangt. Sollte sie zunächst als sehr wehrhafte gewaltige Trutzburg den Bischof schützen, wurde sie im Verlauf aber auch zum Schloss ausgebaut, wurde Opfer von Bränden und Zerstörungen. Dennoch ist das, was von ihr übrig geblieben ist, sehr imposant und wird geschützt. In einem halbrunden riesigen Erker wurde eine Bühne eingebaut. Bereits 1896 fand hier das erste Sängerfest der Region statt. Es ist bestimmt eine herrliche Sache, mal eine Aufführung hier inmitten der Mauern miterleben zu können, in denen auch Festspiele zu Ehren der „weißen Frau“ stattfinden. Das ist nämlich eine Geschichte, der man im Mittelalter glaubte. Der Versuch, eine als Chorknabe getarnte Frau, die Geliebte des Domherrn, in die Burg einzuschleusen, misslang. Statt Schäferstündchen auszukosten, musste er fortan sein Dasein im Kerker fristen, und die Holde wurde lebendig eingemauert. Aber ihr Geist erscheint seitdem immer in Vollmondnächten im August in Form eines durch das mittlere Seitenfenster der Kirche fallenden weißen Lichtscheins in Gestalt einer Frau. Glaubt man der Geschichte nicht, muss man aufpassen. Denn auch die ganz sachliche Erklärung ist sehr geheimnisvoll und entspricht im Ergebnis der Sage. Denn der August-Vollmond wirft aufgrund seiner Position immer einen Lichtstrahl durchs Fenster, und dieser zeigt immer eine Figur - mit Phantasie.
Am Häuschen der Großeltern der Illustratorin der Astrid Lindgren-Bücher vorbei kommen wir auf die Großbaustelle Hauptstraße. Schade, denn in diesem Gewühle und hinter dem schweren Gerät kommen die anliegenden Häuschen von Peppermint Patty, Rosarot Panter, Milly Vanilly, Samuel Frosch, Lola Rot und Donald Blau gar nicht richtig zur Geltung. Ja, solche Gedanken an Bewohner und Häuschen machen sich in mir breit, obwohl die Strecke die volle Aufmerksamkeit am Lenker fordert, will man die Bauarbeiter nicht durch ein Aus-der-Spur-Kommen und Kippen vom Rad noch mehr in Staunen versetzen, nicht wegen mir, die Zeiten sind rum, aber wegen des Gespanns und dem durchschimmernden Hund hinten drin, der immer wieder für Schmunzeln sorgt, selbst im dicksten Dreck.
Der Heimweg wird angetreten, noch ein kleiner Einkauf im Supermarkt, und über die schönen Uferpromenaden geht‘s zurück zum Womo. Eine große Büste auf einem hohen Podest hält uns noch kurz auf. Ein für Estland sehr bedeutender Musiker mit großer Schaffensfreude ist hier verewigt.
Die Sonne geht unspektakulär und hinter dichter Wolkendecke unter. Hoffentlich ist das kein schlechtes Omen für morgen. Morgen geht es nämlich auf die Insel. Und heute verzehren wir noch etwas Seltsames und Unbekanntes aus dem Supermarkt: gebackene Brotstreifen mit einer Art Eier-Aioli. Ergebnis: gewöhnungsbedürftig.