französische Ardennen ~ Sedan

03.06.2024 Montag

Heute wird gehoppt, und zwar von Belgien nach Frankreich hinüber. Die französischen Ardennen, so liest man, sind nicht nur für ihre atemberaubenden Landschaften oder ihre verzauberten, sattgrünen Wälder, sondern auch für ihre Gastronomie und ihre lokalen Produkte bekannt. Die Wurst- und Pökelwaren gehören zweifellos zum Geschmackserbe dieser Region. Terrinen vom Wild, Rillettes, Salade au Lard und vieles mehr - das klingt doch sehr gut und macht große Lust, in den Ardennen dieses Stückchen echtes Frankreich zu entdecken. 

Natur und Geschichte werden hier groß geschrieben. Leider auch aus extrem schrecklichen Gründen, denn die Ardennen sind eine Schlüsselregion für den Gedenktourismus, und es finden sich hier wie im belgischen Teil zahlreiche Spuren des Ersten Weltkriegs und der Ardennenschlacht 1944-45 im Zweiten Weltkrieg. 

Zu den amüsanteren Hintergründen in diesem Landstrich der Erinnerungen, der Sagen und Legenden, gehört das Wappentier der französischen Ardennen: das Wildschwein. Das Borstenvieh symbolisiert die starken Werte der Ardennen und seiner Menschen, nämlich eiserne Kraft, Ausdauer, Mut, harte Arbeit und auch Geselligkeit mit einem Quäntchen Fantasie. Auch wenn wir auf unserer Runde eher nicht an der AB-Raststätte Ausfahrt 14 in Saulces-Monclin vorbei kommen, will ich es doch nicht unerwähnt lassen, das größte Wildschwein der Welt. Es hat es verdient mit seinen strammen 50 Tonnen Gewicht, seiner Größe von 10 m Höhe, 13 m Länge und 5 m Breite. Eine wahre monumentale Kreatur, in 11 Jahren und 12.000 Arbeitsstunden vom Gießereikünstler Eric Sleziak zusammen geschweißt aus Tausenden Metallplatten. So steht dieser riesige Eber aus Metall, der auf den Namen Woinic hört, stramm und stolz auf seinem Fleck und blickt nun als bedeutendes Wahrzeichen auf sein Departement Ardennen, an den ihn in einem feierlichen Akt ein außergewöhnlicher Konvoi am 08.08.2008 unter den Augen von 120.000 Bewunderern brachte.

Besonderheiten darf man in dieser Region erwarten, so sagt man, und fordert auf, die Augen gut offen zu halten und stets wachsam zu sein, da in diesem „verwunschenen“ Land unter jedem Stein eine Legende versteckt sein könnte. 

Man erzählt sich vom Riesenpferd Bayard, auf dem vier junge Ritter durch die Ardennen zogen und gegen Karl den Großen kämpften, Burgen bauten und schließlich mitsamt ihrem Riesenross versteinert wurden. Versteinern lag offenbar ohnehin im Trend. An der Maas stellt ein markanter Schieferfelsen die „Dames de Meuse“ dar, einst Ritterfrauen, die die Versteinerung als Strafe für ihre Ehebrüche ereilte. Da werde ich mich mal zusammenreißen und keinem schneidigen Ardenner einen zweideutigen Blick zuwerfen. Es könnte mir zum Nachteil gereichen. Und überdies ist Wim unersetzlich, muss er mit mir doch unverzagt durch die Waldtäler gurken auf der Suche nach Burgen, Schlössern und Klöstern und reizenden Städtchen. Und ein solches steht heute auf der To-do-Liste: Sedan. 

Also machen wir uns in Maßen zeitig auf den Weg, heutige Etappe ganze 20 km, also keine wirkliche Eile geboten. Über die schmale steinerne Brücke und durch den Tunnel verlassen wir Bouillon und sind schon kurz darauf in Frankreich im Départment des Ardennes. Erfreulicherweise reißt die Wolkendecke immer mehr auf. Ehe wir uns versehen, können wir uns schon in Sedan nach Parkmöglichkeiten für unser Concördchen umsehen, möglichst unmittelbare Burgnähe. Park4night bietet was, und tatsächlich passen wir. Später werden wir entscheiden, ob wir ein kurzes Stück weiterziehen oder die Nacht im Schatten der Burg verbringen wollen. Zunächst steht Erstürmen der gewaltigen Festung an.

Im Herzen der symbolträchtigen Stadt Sedan thront diese mittelalterliche imposante Zitadelle, erbaut im 12. Jahrhundert. Sie zeugt von Macht und militärischer Strategie, die die Geschichte der Region geprägt haben. Mit ihren massiven Bollwerken auf einer Fläche von 35.000 qm, ihren 7 m bis gigantischen 27 m dicken Festungsmauern und ihren kilometerlangen Wehrgängen ist sie die größte mittelalterliche Festungsanlage in ganz Europa und ein Highlight schlechthin. Andächtig und gespannt marschieren wir bei immer sonniger werdendem Wetter erstmal auf der Suche nach dem Eingang an den 40 m hohen Mauern des als uneinnehmbar geltenden Kolosses, der trotz seiner 7 Etagen etwas Märchenhaftes versprüht, vorbei. Durchaus könnte einem ein fein gewandetes Burgfräulein von weit oben gnädig zuwinken. 

Aber jetzt hören wir bei Erreichen des ersten gepflasterten Anstiegs Richtung Billetterie jubelnde und kreischende Kinderstimmen. Wim guckt hinter einer hölzernen Abtrennung „nach dem Rechten“. Und siehe da, ein Ritterspektakel ist in vollem Gange unter lautstarker Anfeuerung durch zahlreiche Kinder von der Tribüne, wohl ein Klassenausflug. Sie haben total Spaß, fiebern mit den Rittern und der Ritterin, die evtl. ja gar eine Prinzessin ist. Sie lauschen dem Erzähler und feiern Sieg und Niederlage zu toller Musikbeschallung. 

Atmosphärisch gut eingestimmt gelangen wir über dunkle Gänge in einen sehr großen Innenhof mit hoch sich auftürmendem Gemäuer ringsum und zum Eingang. Wunder oh Wunder: Chianga darf mit! Na denn, Eintritt zahlen, mit 25 € nicht günstig, aber kein Hinderungsgrund. 

Und dann geht‘s erstmal in die Untergeschosse über steilste gepflasterte oder hölzerne Stiegen. Ja, das ist ein Moment für mich: Gehen oder Bleiben, Sein oder Nichtsein. Meine Platzangst kreuzt häufig meine Pläne und zerschlägt sie. Dies aber eigentlich nur, wenn Stolleneinfahrten anstehen oder Katakomben besucht werden wollen, also wenn Massen von hundsgewöhnlichem Erdreich über mir liegen. Dies hier ist ein Haus, da geh ich lediglich in den Keller, nicht mehr und nicht weniger. Und siehe da … Selbstheilung folgt auf dem Fuße, ohne Schnappatmung dringe ich tief ein nach unten in Kellergewölbe und Unterwelt und erlebe in der „Halle des Jeu de Paume“ phantastische Präsentationen und Lichtspiele. Hier sollen die Soldaten im Mittelalter das Paumespiel gespielt haben, ein Vorläufer des Tennis, das darin bestand, sich einen Ball mit der Handfläche zuzuschlagen.

Einige Stiegen geht es wieder nach oben und man gelangt nach draußen auf den Südwestwall und die sogenannte „Kanonenterrasse“. Von hier aus kann man am Mauerwerk erahnen, wo es noch ursprüngliche Zustände von Anfang 15. Jahrhundert gibt und was im 17. und 19. Jahrhundert errichtet wurde, denn im Laufe der Jahrzehnte wurde die Anlage immer wieder erweitert und vor allem wehrhafter gestaltet. Außerdem bieten sich tolle Blicke auf die Stadt ringsum und den im 17. Jahrhundert erbauten „Prinzenpalast“. Damals empfand man plötzlich die Burggemächer als sehr unkomfortabel. Prinz Henri de la Tour d‘Auvergne ließ daraufhin eine Residenz bauen, die dem Geschmack der damaligen Zeit entsprach. Erstaunlicherweise wohnte aber nur Henri in diesem neuen Palast, seine Frau, Elisabeth von Nassau, zog es vor, im alten Gemäuer zu bleiben. Kurzerhand verband man die beiden Gebäude durch einen Steg, und man erzählt, dass Henri, der schrecklich unter Gicht litt, jeden Tag seine Frau besuchte und mit einer Sänfte zu ihr hinüber geschleppt wurde. 

Dann tauchen wir wieder ein ins historische Gemäuer über dunkle hohle Gassen und Treppen aller Art. Stockfinster ist es momentelang, aber es lässt sich mit etwas Vorsicht perfekt erkunden, und die Augen gewöhnen sich schnell an das Wechselspiel. Plötzlich, man traut den Augen kaum, stehen wir vor einer opulent ausstaffierten Tafel in einem herrlichen Raum. Hier ist der Tisch gedeckt für das Hochzeitsbankett anläßlich der Trauung von Prinzessin Charlotte de La Marck und unserem vorerwähnten Henri. So feierte man 1591 im Fürstenhaus. In Nebenräumen kann man Blicke in die Küche werfen. Alles ist untermalt mit Musik oder geschäftigem Geklapper von Geschirr, leisem Gläserglirren und Rührgeräuschen in Töpfen. Man fühlt sich mittendrin im Kreis geisterhafter Gesellen und prostet sich zu. Aber es wird um Vorsicht gebeten. Wenn man an der verfluchten Kammer des berühmtesten der Fürstenfamilie der La Marcks, dem Guillaume, vorbei kommt, dann … ja was dann … das bleibt ein Geheimnis. Aber Wim war total drin, nicht nur daran vorbei. Ich bin gespannt, ob und was sich nun tut. Man sagt, man habe diesen Guillaume treffend benannt mit „Eber der Ardennen“. Noch vollzieht sich in Wim aber keine Wandlung, noch ist er der Alte. Ich werde berichten …

Sehr anschaulich begleiten die Ausstellungen und Museumsstücke einen durch die Vergangenheit und es macht wirklich sehr viel Spaß, sich alles anzuschauen und tief einzutauchen in das Geschehen vor Hunderten von Jahren. Und irgendwann hat einen die Jetztzeit wieder und man steht im Museumsshop und in der ehemaligen Burgküche, die jetzt als Café dient.

Um die Burg an anderer Seite herum schlendern wir randvoll mit sehr erlebnisreichen tollen Eindrücken zum Womo zurück und beschließen, heute noch zum nächsten Ziel in Charleville-Mézières in 30 km Entfernung weiterzuziehen und der tollen Stadt Sedan mit ihren sehr eleganten Fassaden der Bürgerhäuser, die Zeugen eines goldenen Zeitalters sind, als die Stadt dank ihrer Tuchkunst und ihrer Brauereien richtig florierte, den Rücken zuzudrehen. Sehr interessant ist aber noch, dass Sedan im 16. Jahrhundert eine renommierte Akademie beherbergte, eine Brutstätte intellektueller Debatten war, nach ausgerufener Unabhängigkeit zu einer Bastion der Religionsfreiheit und Zufluchtsort für Protestanten wurde und Verfolgte willkommen hieß. Den Weitblick hatte man also damals schon.