01.06.2024 Samstag
Eine gute Woche … ja, die können wir zum Rumreisen nutzen und hoffen, dass es auch eine gute Woche wird. Da wir nicht allzu weit fahren wollen, fällt uns die Region Ardennen ein: etwas Ausland, bisschen Belgien, ein Hauch Frankreich. Und beim näheren Hinsehen und Stöbern im Netz lassen sich herrliche Örtchen mit tollen Sehenswürdigkeiten herauspicken. Viele Schlösser und Burgen prägen diese sehr geschichtsträchtige Region, urwüchsige Wälder und tiefe Flußtäler bietet diese „grüne Lunge“ reichlich. Dann mal los, kurz prüfen, ob die Regenjacken an ihrem Platz im Womo liegen, zuhause alles verrammeln, und wir rollen kurz vor Mittag bei bedecktem Himmel vom Hof Richtung Prüm und Schneeeifel. Flott haben wir die 30 km bis zur belgischen Grenze im Sack und verlassen vor St. Vith die AB. Jetzt gehts erstmal durch ziemlich einsames Grenzland, Bauernhöfe liegen im grünen Ackerland, große Kuhherden stehen auf Lichtungen in den Wäldern. Eine raue Gegend ist das hier. Die Straßen sind schmal, der Asphalt häufig miserabel, schwere Traktoren schleppen noch schwerere Baumstämme von A nach B, und rau und spröde wie das Land zeigen sich auch die Häuser mit ihrem Bruchstein- und Schiefermauerwerk und ihren schiefergedeckten Dächern. Kein Wunder also, dass wir schnell etliche „Friture“ passieren, in diesem urigen Landstrich muss deftig gegessen werden, und da bieten sich Pommes doch förmlich an, sind ja quasi das Symbol für Belgien schlechthin. Noch können wir aber widerstehen, decken uns aber nach einem kurzen Stück über die AB im nächsten Supermarkt ein. Baguette, Paté, ok. Und weiter geht‘s.
Nach 160 km erreichen wir unversehrt unser Ziel, nachdem Rüdiger, das Navi, uns über eine schmale, für Normalverkehr gesperrte Waldtrasse mit Tunnel schicken wollte, wir aber zeitig genug seinen miserablen Plan durchschauten. Bei dem Ding hat man echt nicht Augen genug. Er ist nicht grundlegend schlecht, manchmal auch voll korrekt, aber wenn es ihn packt … und man dann gerade mal nicht aufpasst, dann tut sich die Wildnis auf und man darf wenden in 27 Zügen jenseits der Zivilisation. Nun stehen wir aber nach kleinem, gut fahrbaren Umweg auf dem Parkplatz der Hostellerie d‘Orval. Per Mail hatte ich vor ein paar Tagen angefragt, einen Tisch für heute Abend reserviert und das „ok“ für Übernachtung erhalten. Idyllisch ist der Parkplatz nicht, aber fest und sauber geschottert und mit schöner Aussicht auf die Hostellerie und über einen Teich hinweg auf ein altes Chateau. Sinn unserer Platzwahl ist, von hier aus die Sehenswürdigkeit schlechthin zu besichtigen: die im Jahr 1132 gegründete Abtei Notre Dame d’Orval, eine der bemerkenswertesten Zisterzienserabteien Belgiens. Und die knöpfen wir uns vor, gut gestärkt nach kleinem Imbiss mit frisch knusperndem Baguette und einer bis dato unbekannten „Pain de Viande Maison cuit“.
Paar hundert Meter am idyllischen Teich mit Anwesen und der Straße entlang, an der sich Parkbucht an Parkbucht für PKWs reiht, taucht die Abtei im dichten Waldbett auf. Langgezogen liegt diese historische Stätte vor uns. Sie ist beliebtes Ausflugsziel hier im Herzen der Dreiländer-Region Ardennen und beheimatet eine beeindruckende Kunstsammlung. Ungewöhnlich für uns ist, dass einzelne Besucher mit seltsamem Handgepäck Richtung Eingang schreiten: mit leeren Bierkästen. Also mal aufpassen, was dahinter steckt.
Leider ist der Zugang für Hunde verboten. So machen Wim und Chianga einen Spaziergang außen herum und ich nach Kauf meines ersten Senioren-Tickets (5 € statt 7 €) den Besichtigungsgang durch die Abtei, die für den allgemeinen Besucher nur zum Teil geöffnet ist. Der Blick fällt auf nahezu 1000 Jahre alte Geschichte, auf ein imposantes Gemäuer und auf beeindruckende Ruinen, um die sich die Legende rankt, dass eine Gräfin Mathilde von Irgendwas den Bau des Klosters aus Dankbarkeit veranlasst haben soll. Aus Versehen habe sie ehemals ihren Ehering in eine Quelle in diesem Tal fallen gelassen. Sie betete daraufhin zu Gott, und sogleich erschien eine Forelle an der Wasseroberfläche, die in ihrem Maul den kostbaren Ring trug. Da rief Mathilde: “Dies ist wahrlich ein Goldtal (Val d’Or) !”. Und sie beschloss, aus Dankbarkeit ein Kloster an diesem geweihten Ort zu gründen. So erklärt es sich, dass man der Forelle vielfach begegnet, die offensichtlich als Symbol die Erinnerung an diese Legende wachhalten soll. Ein Geheimnis wäre damit gelüftet.
Wenige Besucher sind unterwegs, ich kann daher sehr ungestört Gedanken nachhängen und in der Klosterstätte in den historischen Ruinen und dem modernen Museum der Abtei d’Orval entspannt Zeit verbringen.
Die Präsentation der Ausstellungsstücke in den fensterlosen Gewölbegängen ist schon besonders und gefällt mir sehr gut. Sehr beeindruckend ist, dass an manchen Punkten, kaum hörbar, Musik oder Geräusche der Natur sehr intensiv und nachdrücklich das Erlebnis verstärken, man sich in einem Werk mittendrin befindet, sich in einer Kirche oder einem Konzertsaal fühlt, umgeben von unsichtbaren Chören.
Oder man hinter einer sich wie von Geisterhand öffnenden Tür in einem zunächst stockfinster erscheinenden, tiefdunkelblauen Raum steht, das sehr leise Plätschern einer Quelle vernimmt, auf eine mit einem gläsernen weißen Tuch ausgelegte Krippe blickt und einer Gestalt wohl auf ihrem letzten Weg ins Licht folgt. Ja, ein sehr beklemmender Moment, ein fesselnder, einer der sich nach Erschrockenheit wärmend in einem niederlässt, auch nach Verlassen des Gewölbes in Blau - und danach - nichts an Wirkung verliert und verlieren wird.
Das nächste Geheimnis steht zur Lüftung an: die Besucher mit den leeren Bierkästen. Nun ja, hier steht ein berühmtes Kloster, eines von nur 12 Trappistenklöstern weltweit. In dieser Abtei wird ein ebenso berühmtes Trappistenbier von mittlerweile einzigartigem Geschmack gebraut. Die Mönchsgemeinschaft ist seit jeher direkt an Erzeugung und Vermarktung beteiligt, und ein Großteil des erwirtschafteten Verkaufserlöses fließt sozialen Zwecken zu. Das Bier mit dem Namen „Orval Vert“ darf nur vor Ort verkostet und nicht über die Grenzen der Abtei hinaus „exportiert“ werden. So exklusiv geht man hinter Klostermauern mit dem Gebräu um. Vermutlich hat es schon immer eine Brauerei in der Abtei gegeben. Aus alten Plänen und Verzeichnissen ergibt sich die genaue Beschreibung der Herstellung und der Nachweis einer sogenannten Hopferei in der Nähe der Abtei. Damals war das Brauen nämlich in denjenigen Gegenden angesagt, die zum Weinbau wenig geeignet waren. Das Bier wurde vor allem aufgrund seiner Nahrungseigenschaften geschätzt, man nannte es das „flüssige Brot“. Und als Geldquelle war das Brauen nicht zu unterschätzen, diente sie doch der Wiederauferstehung des Klosters im Jahr 1931. Allerdings stellten die Mönche, da sie ja bereits selbst Brot und Käse herstellten, von Anfang an Arbeitskräfte zum Bierbrauen ein, u. a. als ersten Braumeister einen Deutschen namens Martin Pappenheimer. „Man kennt ja seine Pappenheimer“ - ob dieser Ausspruch da seinen Ursprung hat? Dem werde ich mal nachgehen. Jedenfalls kreierten die verschiedenen Mitarbeiter dieses spezielle Bier durch kühne Kombinationen von Herstellungsmethoden, die sich anderswo nicht finden ließen und bis heute fortgeführt werden, damit dieses typische Bier, dessen Aroma und feiner Geschmack mehr von Hopfen und Hefe als vom Malz abhängen, Bierkästen füllen und Biergenießer glücklich machen kann. So wie das Rezept des Gebräus sind Bierglas, Flasche und Etikett auch heute noch unveränderte Zeugnisse vom Anfang der 1930er Jahre und wandern im Museumsshop über die Theken in die Kästen der Bierkastenschlepper oder als Kartonware gut abgepackt. Nach dem Besuch der wirklich sehenswerten und sehr anschaulich präsentierten Ausstellung zum Thema Bierbrauen mache ich mich auf den Heimweg.
Am ersten Lokal an der Abtei, dessen Terrasse total bevölkert ist, prosten sich gut gelaunte Gäste mit Orval-Bier zu. Leider hat der Shop schon Feierabend. So muss Wim auf seinen ersten Schluck
bis zum Abend warten, denn in der Hostellerie wird es auch ausgeschenkt, glücklicherweise. Auf dem Parkplatz beim Womo stehen jetzt viele PKW. Aus den Wäldern kommen nach und nach Wandergruppen,
steigen ein oder schreiten zur Hostellerie. Gut, dass wir reserviert haben. Am PKW uns gegenüber schält sich ein rundlicher älterer Mann aus seinen Wanderklamotten. Alles legt er ab, Oberkörper
frei, ein Handtuch ist parat, er trocknet sich ab, und fischt aus den Tiefen seines Kofferraums frische Wäsche, Oberhemd, Hose und Schuhe. Kaum höher als die Wagentüren seines SUV kann er sich
vor Blicken geschützt fast wie in einer Umkleidekabine „frisch machen“. Wim und ich gucken zwangsläufig dem Spielchen zu, sind auch der Ansicht, dass es nur gut für alte Knochen und Muskeln sein
kann, sich nach einer schwitzigen Wanderung vor der Heimfahrt umzuziehen und bewundern den routinierten Umgang des Wanderers, bei dem jeder Schritt, jeder Handgriff zu sitzen scheint. Dann
plötzlich taucht er hinter seiner Wagentür auf, guckt irgendwie zweifelnd, schreitet zum Kofferraum, stülpt alles um, guckt hier, guckt da, kram herum, und noch einmal und noch einmal. Sein
Gesichtsausdruck sagt, irgendetwas fehlt, ist nicht da, wo es sich befinden sollte. Also geht er seitlich und schiebt sich suchend tief zwischen Fahrersitz und Rückbank seines PKWs. Seine kurzen
Beine baumeln, seine Füße, an denen das Schuhwerk nur locker hängt, haben keinen Bodenkontakt. Wir beobachten weiter, jetzt auch aus Angst, der Mensch schafft es alleine nicht mehr raus aus
dieser zwicklichen Lage. Aber keine Ursache, da ist er wieder, aber rauft sich immer noch sein nicht mehr vorhandenes Deckhaar. Sein verstörter Blick ins Leere weckt sofort mein Mitleid. Und wie
vom Blitz getroffen springe ich auf, greife etwas am Fußende meines Betts, öffne unsere Tür, halte das Ding hoch und rufe: „Bonjour Monsieur, voulez-vous mon … Schuhanzieher?“ Auch wenn mir so ad
hoc das französische Wort für Schuhanzieher nicht einfällt, versteht Monsieur sofort. Überglücklich nähert er sich mir mit schlurfendem Gang im lockeren Schuhwerk, greift beherzt zu, setzt an und
genießt aufatmend den Moment des ungehinderten Reinschlüpfens in seine Schuhe mit Hilfe des Hilfsmittels. Die Sonne geht auf, sein Tag ist gerettet. Mit einem „Sie schickt der Himmel“ im Blick,
bedankt er sich gesten- und wortreich, schließt seine Autotüren und begibt sich in Richtung Hostellerie.
So, die gute Tat für heute wäre damit vollbracht, und wir können zum gemütlichen Teil übergehen. Chianga bleibt im Womo, obwohl sie ins Lokal hätte mit rein dürfen. Ein Orval wird Wim kredenzt, dazu ein Stück vom Abtei-Käse, auch eine Besonderheit hier, die probiert werden muss. Der Orvalkäse wird hergestellt aus frischer, pasteurisierter Kuhvollmilch, die von den der Abtei benachbarten Bauernhöfen stammt. Seit 1928 wird der Orvalkäse hinter den Mauern der Abtei nach dem Rezept hergestellt, das im Jahre 1816 von den Trappisten-Mönchen der Abtei von Port du Salut entwickelt wurde. Sein gepresster, nicht gekochter Teig zeichnet sich durch besondere Cremigkeit aus. Die Reifung dauert drei Wochen. Die Waschungen der natürlichen Rinde werden vollständig mit der Hand durchgeführt, um einen reichen und typischen Geschmack sowie eine flexible, schmelzende Textur zu erhalten. Und so mundet er uns, erstaunlich kräftig, herzhaft und sehr zart im Abgang. Dazu reicht man Selleriesalz, was unseren Geschmack dann aber nicht so trifft. Das erledigt die folgende Ladung, nämlich leckere belgische Klopse an frischem Blattsalat mit Käse-Remoulade und einer ordentlichen Schüssel voll goldener Fritten, ganz nach belgischer Manier. C‘est bon. Und dann folgt die Nacht.