von Skhirat nach Boulaouane


Tag 12 - 26.01.2023 Donnerstag

Zeitig kündigt der Verkehr auf der R322 das Ende der Nacht an, die für uns trotz Nähe zur Straße sehr ruhig verlief. Heute wollen wir auf unserem Weg nach Süden einen „Abstecher“ ins Inland unternehmen, raus aus dem touristischen Streifen im Dunst der Großstädte. Mal sehn, was uns erwartet. Sehr gespannt ziehen wir auf der Route vorbei am extrem gepflegten und ebenso bewachten königlichen Areal Nähe Mohammedia, dem sich ebenso stark bewachte und mit Schlagbäumen gesicherte Villenviertel am Atlantik anschließen, gefolgt von landwirtschaftlich genutzten Flächen oder Brachland. 

Die ganze Strecke entlang wiederholen sich die Bilder feiner Straßenzüge, schmucker Häuser und Baracken, dicker Autos und Pferdekutschen und Verhikeln aller Art, Leben am Straßenrand und im Schutz hoher Mauern, mit Nutztieren oder ohne. Allgegenwärtig stehen Kleinstbusse oder PKW an den Straßenrändern mit eingebauten großen Kaffeemaschinen und werden bevölkert oder warten auf Kunden. Auf unserer letzten Tour in 2020 haben wir solche Unternehmer nicht gesehen. Scheint aber aktuell der Renner zu sein. 

Hinter Casablanca wechseln wir auf die N9 Richtung Settat. Hier haben wir 2020 notgedrungen mal eine Nacht verbringen müssen auf dem Weg im Schnelldurchgang nach Ceuta zur Fähre als Corona bedingt eigentlich nichts mehr ging. Vor Erreichen der größeren Stadt mit prächtigen Parks und Straßenzügen durchfahren wir noch Berrechid, das einen ebenso städtischen gepflegten Eindruck macht, dem aber auch, wie vielen Städten, neben einer feinen Vorstadt eine gewisse Verwahrlosung folgt, oder jedenfalls Zustände, die wir als Europäer so bezeichnen würden. 

Ab Settat geht es weiter über die R316. Wir bewegen uns, eigentlich schon auf der ganzen Route, inmitten unzähliger Kutschen und Fuhrwerke. Auf unseren bisherigen Reisen haben wir solch eine Masse an ziehenden Pferdchen und Eseln nicht erlebt. Offensichtlich ist in manchen Gegenden ein Auto oder die Unterhaltung eines solchen der pure Luxus, eher schätzt man sich glücklich, wenigstens Pferd und Wagen zu besitzen. 

Irgendwann auf der heutigen knapp 200 km langen Strecke ändert sich die Landschaft. Zogen wir bisher eher durch eintönigeres flaches Land, so zeigen sich nun wunderbare Erdfarben, es ist hügelig, aber ziemlich baumlos. Die Straße steigt an, um dann hinab in ein Tal zu fallen. Und da ist er, der Oued Oum er-Rbia. Er windet sich in unzähligen Schleifen quer durch Marokko und unweit der Brücke, die wir nun überqueren, werden wir eine Nacht verbringen. Das ist leichter gesagt als getan, was aber nicht am Durchqueren des Ortes Boulaouane liegt.

Nein, der Abzweig am Ortsausgang auf ein No-name-Sträßchen und die folgenden 10 km auf Asphaltbändchen in sehr sehr grober Webart, eher weniger feinmaschig, sondern in Aufsehen erregendem Lochmuster, die haben es in sich, die fordern alles. Gut tut daher auf den ersten Metern, auf denen wir eigentlich schon zwei Mal wenden wollen, das mutmachende Winken einer ganzen Ladung uns entgegen kommender Strahlemänner. Ja klar, „Daumen hoch“ verstehen wir bald. Denn diesen Ritt muss man erstmal hinter sich bringen, wobei man meinen könnte, man wäre auf einem Schaukelpferd unterwegs. Wieviel Energie doch für das seitliche Geschaukele und nach vorne Wegeiern vergeudet werden muss, denn sonst könnten wir doch nicht eine Stunde für 10 km brauchen. Aber es ist so. Loch an Loch - und hält doch, sagt meine Mutter immer mal gerne, das trifft heute nicht zu, denn Asphaltloch an Asphaltloch hält eben nicht, nicht so, dass wir nur so dahin gleiten könnten. Froh, wenigstens meterweise die sandige Eselsspur als das kleinere Übel befahren zu dürfen, schleichen wir mit gefühlt 2,3 km/h durch die Lande. Selbst mein Schritttempo wäre vermutlich strammer gewesen. Aber was soll‘s. Frei nach dem Motto „besser schlecht gefahren als gut gegangen“ kosten wir Vorfreude und Spannung auf das was kommt aus. Ausgiebig aus. Überlässt Wim mir doch immer die Wahl der Ziele, so spür ich doch jetzt, zunehmend mal mehr mal weniger deutlich, eine Art Ungehaltenheit bei ihm, um es mal damenhaft auszudrücken. Ich sag jedenfalls mal besser nix, enthalte mich jeglicher Stimme, tue so, als ob ich genieße, und lasse mich nur hin und wieder über die herrliche Natur aus, nur knapp. 

Aber was soll ich sagen? Wir kommen natürlich an. Und sie liegt vor uns. Es trennt uns nur eine letzte, aber sehr deutliche Senke, dann haben wir sie: die Kasbah Boulaouane (gesprochen: Balawan) - die Festung des Beistands. Sehr imposant und faszinierend schön in der späten Nachmittagssonne zeigt sie uns ihr zinnengekröntes Haupt auf den mächtigen Mauern. 

Aus der Wächternische in den Arkaden hinter dem riesigen Tor mit Spitzbogen taucht ein älterer Mann auf. Er begrüßt uns herzlich und erlaubt uns, nach etwas Zureden, eine Nacht hier zu verbringen. Hier, das heißt hoch oben über einer der vielen Flussschleifen des Oum er-Rbia an der ehemaligen Handelsstraße nach Agadir im Schatten der prächtigen Verteidigungsbastion. Wir sind echt geplättet. Nach der mörderischen Anreise braucht es ein klein wenig, die Strapaze muss kurz sacken, und macht dann Platz für Staunen und Begeisterung darüber, dieses Plätzchen und diese Aussicht erreicht zu haben.

Verschnaufen erledigt, Rundgang angesagt. Von den begehbaren drei Seiten, eine fällt sofort zum Fluss hin steil ab, hat man phantastische Ausblicke auf die Flusslandschaft. Die höher gelegenen Dörfer sind angestrahlt vom Sonnenlicht, aus den Niederungen leuchtet das Orange der Apfelsinenplantagen und das Blau des Flusswassers funkelt wie ein Band aus Edelsteinen. Männer und Frauen kommen auf ihren Eseln auf schmalen Serpentinen den Berg herauf, beladen mit Brennholz und Grünzeug. Biblische Ansichten, die einen ergreifen und schlucken lassen. Gerade wollen wir zum Inneren der Burg schlurfen, taucht hinter struppigem Gebüsch ein Schwarm kichernder Frauen jeden Alters auf mit einer Handvoll Kinder. Ich grüße auf Französisch, wünsche guten Abend, woraufhin sie mich mit Fragen (Arabisch oder Berber, man weiß es nicht) löchern. Ich verstehe nichts. Das kleine Mädchen spricht Französisch. So tun wir beide unser Bestes. Es ist sehr spaßig, alle beteiligen sich, haben Fragen zu meinem Schmuck, meiner Familie, Vollverschleierung wird gelüftet, wir haben jede Menge unbefangenen Spaß zusammen. Wim derweil, er kennt das schon, geht mit Chianga in ganz andere Ecken. Ist er nämlich zu nah dabei, ist das Ganze wenig locker, eher gebremst. Wim amüsiert sich über alles aus der Ferne. Chianga staunt und lässt mich nicht aus den Augen. 

Den Rundgang im Inneren der Kasbah können wir dann alleine absolvieren. Vieles ist noch gut erkennbar und erhalten, wie die Speicher im Keller, der Kerker und besonders die Moschee. Irgendwie ergreifend ist es immer wieder, solche alten „Pflaster“ zu begehen. Was wohl wie wann warum geschah … seit der Erbauung 1710 - das beschäftigt einen auf beruhigende Weise.

Draußen vor dem schweren Tor sitzen alle Frauen, es ist eine Familie, auf einem Sims in der Sonne. Ich setze mich dazu, und wir schweigen. Die ältere Frau tätschelt mir meine Hand. Wim geht zum Womo und holt eine Tüte Gummibärchen. Ich teile sie unter allen auf. Sie freuen sich sehr. Mit Küsschen und vielen Umarmungen werde ich dann später verabschiedet. Eine wirklich schöne Begegnung. 

Der Abendfrieden hält weiter an und beschert uns noch grasende Ziegen- und Schafherden zum Sonnenuntergang, fast Kitsch, fast zu schön, um wahr zu sein. Und ein Mädchen, das aus dem Tal herauf kommt, drückt seinem kleinen Bruder zwei dicke Apfelsinen in die Händchen und deutet in unsere Richtung. Verschämt kommt er zu uns, streckt mir die beiden Orangen entgegen. Ich nehme sie, gerne, und drücke ihm ein paar Kaugummis in seine schmutzigen eiskalten Händchen. Er strahlt über alle vier Backen. Wir auch. Und dann knattert ein Moped heran und unser Wächter liefert auch schon unser Abendbrot: Couscous. Ohweia … der heutige Tagebucheintrag wird Überlänge erreichen.