von Aoufous nach Goulmima


Tag 73 - 28.03.2023 Dienstag

Mit uns stimmt was nicht, so zeitig, wie wir in die Pötte kommen. Es kann allerdings auch daran liegen, dass unsere innere Uhr durch die erneute Ramadan bedingte Zeitumstellung nicht mehr so korrekt tickt. In Marokko hinken wir nun 2 Stunden hinter der deutschen Zeit hinterher, was zur Folge hatte, dass wir am Sonntag gerade noch den Abspann vom Tatort erwischen konnten, ansonsten mit saudoofem Gesichtsausdruck auf die Glotze glotzten, ehe wir die Zusammenhänge verstanden. Tja, man wird halt langsamer, auch im Kopf. Aber jetzt sitzt die anstehende Route. Es geht nach herzlicher Verabschiedung von der Familie Oumouloud Richtung Norden, immer schön dem Ziz-Tal folgend. 

Irgendwann klettern wir vom Ufer hinauf auf rund 1000 m auf die weite staubige Ebene. Jungfräulicher Asphalt begrüßt uns. Manchmal lieben wir diese kontrastreiche tief dunkle Farbe sehr, wenn sie sich so angenehm entgegenkommend zeigt. Sehr lange haben wir aber nicht das Vergnügen. Es fällt aber kaum ins Gewicht, da die Straße vor Errachidia recht gut ist und wir nach einem sogar mit Springbrunnen ausgestatteten Kreisverkehr auf der N13 die moderne Stadt mit sehr viel Bautätigkeit durchfahren und kurz noch im Marjane ein paar Sachen einkaufen. Vor der Stadt gibt‘s aber noch einen ungewohnten Zwischenfall. Das übliche Polizeiaufgebot steht dort. Sie winken uns als deutsche Urlauber immer durch. Auch dieses Mal ist das so. Einer der drei Uniformierten bewegt seine Hand entsprechend, wir ziehen im Schneckentempo vorbei, sehen gerade noch so im Augenwinkel, dass einer uns zum Standstreifen bittet. Oha, das hatten wir noch nie. Er fordert den Führerschein. Er bekommt ihn. Er nennt uns 150 DH Bußgeld für Überfahren des Stopp-Schildes. Oha, das hatten wir auch noch nie. Sofort erklärt ihm Wim unmissverständlich, dass sein Kollege durchgewunken habe. Er meint aber, man müsse immer stehen bleiben. Ich schalte mich ein, bin ziemlich sauer, sowas hätten wir noch nie gehört, wenn jemand durchwinkt, winkt er durch. Nein, nicht gestoppt, also 150 DH. Er will die Papiere haben. Wim gibt sie ihm nicht. Er will die Pässe haben. Wim gibt sie ihm ebenfalls nicht. Auf unseren Rat hin, das mit seinen Kollegen zu klären, winkt er uns genervt durch. Wir können fahren. Ob wir nun in Tanger Med in Handschellen abgeführt werden … mal sehn. 

Ohne Vorwarnung, wie in Marokko häufig, endet am Ortsende Errachidia jede Bebauung, jede Vegetation, nur noch Sand, Steine, Geröll, Felsen und Himmel sichtbar, und aus der N13 ist die N10 geworden, die „Route der Kasbahs“. Einige Palmenplantagen sieht man, Hunderte qm trockenes Brachland sind schon eingezäunt und warten auf irgendein Geschehen. Eine internationale Foundation liegt hinter hohen Mauern, kleine landestypische Türme gucken hervor, zwei riesige „Dinger“, wie utopisch große Trampoline, liegen wie gelandete unbekannte Flugobjekte mittendrin. Wim tippt, es könnten Volieren sein. Werde das mal später recherchieren. 

Die nächste Senke kündigt sich an und damit Goulmima, unser Tagesziel für heute. Weit und flach zieht sich die Palmenoase, Neustadt und Altstadt sind deutlich zu erkennen. Und diesen alten Teil der ansonsten unspektakulären Stadt wollen wir erkunden. Mal sehn, wie weit wir im uralten Gemäuer des Ksars kommen. Aber erstmal kommen wir auf dem CP an, der uns nach Klingeln geöffnet wird von Driss, der gerade auf dem Ohr lag, „Ramadan“ wie er sagt. Ein netter freundlicher Kerl ist es, der uns zu einem Gang des fast leeren CP geleitet. Schatten ist wichtig, aktuell 34 Grad. Wir finden etwas Passendes, riesengroß, üppig bepflanzt alles rundum, gelb blühende Mimosen um uns. Sehr schön. 

Da es noch früh am Nachmittag ist, beschließen wir, heute noch den Ksar zu besuchen und keine 2 Nächte, wie es bei uns eher üblich ist, zu bleiben, sondern morgen weiterzuziehen. Wim richtet alles ein, ich ziehe fotografierend ein wenig herum, und der müde Driss wird sehr munter beim Anblick unserer Räder, dreht liebend gerne eine Runde, während wir voller Staunen unsere FB-Freunde Sabine und Chabo und den kleinen schwarzen Teufel um die Ecke kommen sehen. So ein Zufall, sie kommen aus einer ganz anderen Richtung, und Goulmima war so gar nicht bis gestern auf unserer Liste. Schön, hier nochmal aufeinander zu treffen. Sie haben einen extremen „Ritt“ durch Einöden hinter sich, abends werden wir mal quatschen. 

Rund 2 km entfernt liegt der Ksar. Jetzt gegen 18 Uhr ist die starke Hitze gewichen. Über die breite Hauptstraße mit herrlichem Park erreichen wir von einem Kreisverkehr rechts abgehend die Strecke zum Ksar, nicht zu verfehlen. Schöne Häuser stehen an der Straße, eine angenehme Atmosphäre herrscht. Jeder strahlt uns an, winkt und grüßt. 

Auf eine kleine Anhöhe hinauf und schon stehen wir auf einem großen Platz vor dem mit Türmen und Tor bewehrten Ksar aus gestampftem Lehm, der an die 3000 Bewohner noch heute hat. Die begüterten Berber haben zwar in der Neustadt gebaut, die ärmeren sind froh, ihren Lebensmittelpunkt hinter Lehmmauern zu haben. Sehr erhaben und ehrwürdig erscheint alles. Es ändert sich allerdings, als wir versuchen, uns mit Rädern und dem Anhänger durch die verwirrenden und zum Teil stockdunkeln Gassen und Gänge über total unebenen Lehmboden mit tiefen Gräben, Rinnen und Wülsten an den Haustüren vorbei zu wurschteln. Moped- und Radfahrer kommen uns entgegen, es riecht nach Couscous, Gebackenem, nach Abfluss, Ziege und Schaf, ein Esel ruft, irgendwo parkt tatsächlich ein Auto, wir haben offenbar die falsche Abfahrt genommen. Egal. Nun stehen wir auf einem kleinen Plätzchen zwischen hohen Lehmmauern, weit sind wir nicht gekommen, und gucken vermutlich leicht irritiert aus der Wäsche. Rufend und winkend schießt von irgendwoher eine Frau mit festem Schritt auf die Gasse. Ich denke, sie spricht mit irgendeiner Nachbarin hinter mir. Aber nein! Wir sind gemeint! Sie habe auch einen Hund, einen jungen, den sollten wir uns jetzt aber mal angucken. Dazu bittet sie uns in ihr Haus. Das sei kein Problem, und überhaupt keine Frage. Tee stehe bereit, sie würden ohnehin jetzt kochen, ihr Tisch sei unserer, und wir könnten jederzeit und immer wiederkommen. Und dabei sind wir noch nicht mal drin! Wim schwankt, ich schaffe es nicht, der sympathischen resoluten Frau, die so herzlich verschmitzt guckt, abzusagen. Ich glaube, das lässt sie auch nicht gelten. Schon wird die Tochter herbei gerufen, sie schleppen unsere Räder samt Hänger von der Lehmgasse rein ins Haus, durch einen möblierten Flurbereich in eine kleine dunkle Kammer. Ich sehe zunächst nichts, alles ist sehr dunkel, nur bunt geblümte Polster sind erkennbar. Da hinein drückt sie uns quasi, liebevoll aber bestimmt, und dann wird aufgefahren: riesige Datteln, dunkles geschrotetes Etwas, Berber-Pizza, Harira-Suppe, Griesfladen, ein Dattelmus oder ähnliches, Tee, Tee, Tee. Dazwischen wurden wir in die Küche geführt, spärlich mit Holzschränkchen möbliert, eine Arbeitsplatte, eine große separate Kochstelle, ein großer Kühlschrank, ein Regal, eine Spüle, das war‘s. Auch nach oben ging es, 1. Stock und 2. Stock, über extrem steile Steintreppen mit sehr hohen Stufen und ohne Geländer. Tja, da hängt man ganz schön in der Wand. Die große Besonderheit im 700 Jahre alten Haus ist die Decke eines Zimmers, prächtig bemaltes Palmholz in immer noch leuchtenden Farben, das die Hausherrin uns mit Begeisterung zeigt. Schlafräume sind hergerichtet, viele Teppiche liegen, alles perfekt aufgeräumt, Decken zusammengelegt, Kissen gerichtet. Kleine Fenster gibt es mit Dekoration. Wände sind farbig gestrichen. Ich sehe im ganzen Haus nur einen kleinen Schrank. Und ganz oben gibt es eine Dachterrasse mit wunderbarem Blick über die Oase, den Ksar, bis zum Berg hin. Der Welpe haust irgendwo auf einem „Zwischendeck“ und wedelt begeistert nach oben zu uns. Die Frau strahlt, ist so stolz über unser Staunen und die Ehre unseres Besuchs, dieses Gefühl haben wir eindeutig. Es ist uns eine echte Freude, ihr unsere Anerkennung zu zeigen, und zwar deutlich. Sie ist 63 Jahre, ihre Tochter 36, zwei Enkeltöchter leben mit im Haushalt. Die Ehemänner wurden in die Wüste geschickt, sie seien so faul gewesen, nur rauchen, schlafen, trinken. Es sei schlimm gewesen. Dann lieber so. Sie machen alle einen so gefestigten Eindruck, eine Gemeinschaft, die alles im Griff hat. Später frage ich nach, wie sie denn so ohne Einkommen zurecht kommen, ob sie eine Arbeit haben überhaupt. Das sei alles bestens. Sie habe einen Bruder in Belgien, einen Sohn in Spanien, außerdem ein paar Neffen, alle würden unterstützen, das sei normal. Und mit allen haben wir an diesem Abend auch Kontakt. Es ist kaum zu glauben. Einer ihrer Neffen, Ingenieur in Berlin, ist zu Besuch bei seinen Eltern hier im Ksar. Er wird angerufen und ist sofort mit auf der Couch. Der Bruder in Belgien wird angerufen, ist per Video zugeschaltet und unterhält sich auf Holländisch perfekt mit Wim. Der Sohn in Algeciras wird angerufen, liegt mit seiner Freundin auf der Couch, unterhält sich freudig mit uns auf Englisch und versichert uns zigfach, sein Haus sei unseres. Mein lieber Scholli! Wo sind wir hier mal wieder reingeraten. Die älteste Enkeltochter, wohl so 14 Jahre alt, ein so süßes Mädchen, stellt mir den kleinen Hund vor. Ob sie denn mit ihm kuschele und schmuse. Empört schaut sie mich an, meint aber dann, so alle 2 Tage gehe sie zu ihm. Ich empöre mich, das sei viel zu wenig, das Hündchen liebe sie doch so, es wolle ihr allerbester Freund werden, sie niemals allein lassen. Sie hört sich alles sehr genau an. Sie beobachtet unseren Umgang mit Chianga, obwohl sie natürlich im Hänger bleibt. Sie ist schon beeindruckt und küsst und drückt mich zum Abschied, den wir irgendwann einläuten und schaffen, sehr besonders und möchte meine Handynummer haben. Nein, welch eine achtenswerte Frauen-WG, einfach toll. Was geben wir? Was nur? Wie nur? Mit einem Schein in der Hand gehe ich auf unsere Gastgeberin zu. Sie sieht es, springt zurück, wieder vor, auf gar keinen Fall, absolut nein, nein, wir seien ihre Gäste, es sei so schön gewesen, niemals bräuchten wir etwas zu geben. Auch meine Antwort, unsere Kultur sehe das so vor, ließ sie nicht gelten. Ich sollte mir noch die Hausnummer fotografieren, damit ich sie immer wiederfinden könne. So radeln wir ab, Dunkelheit um uns, flutendes Licht in uns. Welch eine Erfahrung, welch eine Menschlichkeit … alles hinter Lehm. 

Unterwegs versucht Wim, noch ein Brot für morgen in einem der wenigen geöffneten Shops und Cafés zu erwischen. Fehlanzeige. Ich sehe noch, wie ein Ladenbesitzer sich auf sein Rad schwingt, denke noch, er schließt jetzt sicher. Langsam radeln wir zum CP zurück. Am Tor werden wir lachend erwartet von Driss und eben dem Ladenbesitzer mit Rad. Der hat doch tatsächlich bei irgendeinem anderen zwei Brote besorgt, sich gedacht, wir können ja nur Camper sein, auf dem CP stehen, und die Brote vorbei gebracht. Ist das zu fassen? Eine gute Nacht wartet auf uns, nachdem wir den restlichen Abend sehr lustig bei einer Büchse Bier mit Sabine und Chabo verbringen. Mal sehn, wie und ob es morgen weiter geht.